Leitartikel

Rosemarie Schwaiger: Die Ballhausplatz-Mutation

Der Bundeskanzler setzt in der Corona-Politik nur noch auf große Gesten und Ablenkungsmanöver.

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Sebastian Kurz wirkte bestens gelaunt und entspannt, als er am Montagabend der Vorwoche vor die Journalisten trat. Es gab Erfreuliches mitzuteilen: „Wir kommen mit dem Impfen gut voran“, behauptete der Bundeskanzler. Er sei auch froh, dass die Bundesregierung vor sechs Wochen erste Öffnungsschritte gesetzt hat. Jeder einzelne Bürger habe dadurch ein Stück Freiheit wiedererlangt. Zwar würden die Infektionen derzeit zunehmen, aber das ist nach Kurz’ Dafürhalten halb so wild: „Die Zahlen wachsen nicht explosionsartig, sondern in einem Ausmaß, das wir erwartet haben.“

Den schlechten Teil der Nachrichten durfte Gesundheitsminister Rudi Anschober zwei Tage und viele quälende Verhandlungsstunden später verkünden: Die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland werden wieder einmal in einen verschärften Lockdown geschickt. Zwar vorerst nur für sechs Tage, aber dabei wird es eher nicht bleiben. Die Situation in den Intensivstationen lasse leider keine andere Vorgangsweise zu, erklärte Anschober.

Offenbar gibt es Corona in Österreich derzeit zweimal – in Form der neuen Mutation Ballhausplatz („Bald wird alles gut“) und in der schon länger grassierenden Variante Stubenring („Erst einmal wird es noch viel schlimmer“). Kurz nimmt die Aufgabentrennung so ernst, dass er die Bekanntgabe der sogenannten „Oster-Ruhe“ für fast die Hälfte der heimischen Bevölkerung nicht einmal mit seiner Anwesenheit beehrte.

Für das Publikum ist die Situation verwirrend. Viele Monate lang war der Bundeskanzler als gnadenloser Corona-Zuchtmeister aufgetreten, dem die Maßnahmen gar nicht streng genug sein konnten. Wäre es nur nach ihm gegangen, das ließ Kurz häufig durchblicken, hätte Österreich in jeder Welle früher, mehr und länger zugesperrt und jegliches Zuwiderhandeln bockiger Bürger konsequenter sanktioniert.

Dann kam der Meinungsumschwung: „Der Lockdown verliert an Kraft, weniger Menschen machen mit, und daher macht es auch keinen Sinn, den Lockdown ins Unermessliche zu verlängern“, erklärte Kurz Ende Februar im deutschen Boulevardblatt „Bild“. Damit war klar, dass die Rolle der Spaßbremse exklusiv dem Gesundheitsminister zufällt. Anschober muss jetzt den Bewohnern Ostösterreichs (und wahrscheinlich bald auch anderer Regionen) erklären, warum er Maßnahmen zu ihren Lasten setzt, die der Regierungschef für sinnlos hält.

Natürlich darf auch ein Kanzler klüger werden. Das fantasielose Abriegeln ganzer Branchen hat Österreich bis dato eher schlecht als recht durch die Pandemie gebracht. Der mit kurzen Unterbrechungen seit November geltende aktuelle Lockdown wirkt nicht mehr wie gewünscht, da hat Sebastian Kurz recht. Es ist in der Tat eine Bankrotterklärung, dass der Politik nach einem Jahr Pandemie noch immer nichts anderes einfällt als plumpes Zusperren und Hausarrest.

Aber die Erfahrung lehrt, dass die Aktivitäten des Kanzlers seltener von inhaltlichen Überlegungen getrieben werden als von Meinungsumfragen. Die Art der Virusbekämpfung ist beim Volk, um es höflich auszudrücken, nicht mehr sonderlich angesehen. Auch die einstige Begeisterung für die Regierung hat sich abgekühlt; würde jetzt gewählt, hätte Türkis-Grün keine Mehrheit mehr. Sebastian Kurz muss nur nach Deutschland schauen, um zu sehen, was chaotisches Seuchenmanagement mit der öffentlichen Meinung anrichten kann: Die Unionsparteien CDU/CSU waren im Februar noch für 42 Prozent der Deutschen grundsätzlich wählbar gewesen, neueste Umfragen bescheinigen nun einen Absturz auf 29 Prozent.

Einziger Ausweg aus der Corona-Endlosschleife sind die Impfungen – weshalb Sebastian Kurz am liebsten nur noch darüber redet. Er legte sich mit der EU-Kommission an, attackierte hohe Beamte im Gesundheitsministerium und stilisierte sich mit großer Geste zum Retter der Bulgaren und Kroaten, die von Brüssel bei der Impfstoffverteilung angeblich unfair behandelt wurden. Nach dem jüngsten EU-Gipfel feierte der Kanzler den vermeintlichen Erfolg seiner Initiative: Immerhin ein Drittel der Mitgliedsländer habe sich für eine gerechtere Verteilung ausgesprochen.

Auf die Impffortschritte im eigenen Land hatte die große Show bis dato leider keine verwertbaren Auswirkungen. Wie es der Zufall wollte, wurde der Ost-Lockdown just an dem Tag beschlossen, an dem bekannt wurde, dass niedergelassene Ärzte in Wien nicht wie geplant noch im März mit dem Impfen beginnen können, sondern erst Mitte April. Auch zum späteren Termin wird jeder Arzt pro Woche nur etwa 50 Impfdosen bekommen. Mehr sei einfach nicht aufzutreiben, heißt es. Österreich schaffte es bisher nicht einmal, die am meisten gefährdete Bevölkerungsgruppe zu immunisieren. Von den über 85-Jährigen wurden nur etwas mehr als die Hälfte mindestens ein Mal geimpft. Dieses Versäumnis bildet sich bei den Sterbefällen deutlich ab: Von insgesamt 155 Covid-Toten in der Vorwoche gehörten 76 zur obersten Alterskohorte.

Der Bundeskanzler hat die Impfungen zur Chefsache erklärt. Er sollte wenigstens bei diesem Thema nicht nur Schaum schlagen, sondern Ergebnisse liefern.

Rosemarie Schwaiger