Rosemarie Schwaiger: Moral-Guerilla
71 Menschen sind tot. Sie starben auf schreckliche Weise in einem Lkw, wahrscheinlich durch Ersticken. Ihre Schlepper waren entweder zu dumm, um die Gefahr zu erkennen, oder desinteressiert oder einfach bösartig. Viel spricht dafür, dass die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder bereits tot waren, als der Kleinlaster die österreichische Staatsgrenze überquerte.
Und wer ist nun schuld daran? Blöde Frage. Selbstverständlich die österreichische Innenministerin. Das findet jedenfalls Michael Genner, Obmann der Hilfsorganisation Asyl in Not. Er forderte schon am Donnerstagnachmittag vergangener Woche, wenige Stunden nach dem grausigen Fund auf der Ostautobahn, den Rücktritt Mikl-Leitners. Genauso sehen das der Verband sozialistischer Studenten und die Sozialistische Jugend, die ebenfalls umgehend Konsequenzen einmahnten.
Jetzt könnte man rechthaberisch einwenden, dass diese Katastrophe komplett ohne österreichische Einwirkung abgelaufen ist. Vermutlich aus Syrien stammende Flüchtlinge, transportiert von einer mutmaßlich bulgarisch-ungarischen Schlepperorganisation, starben sehr wahrscheinlich auf ungarischem Staatsgebiet. Wenn sich alles so zugetragen hat, wie die Kriminalpolizei derzeit annimmt, hätte nicht einmal Ute Bock an der Spitze des Wiener Innenministeriums die Tragödie verhindern können. Aber solche Details stören nur beim Blick auf das große Ganze. In schweren Zeiten gilt es, einfache Lösungen anzubieten. Das sehen die Linken so ähnlich wie die Rechten.
Billige Polemik von oben herab bringt keinen einzigen FPÖ-Wähler zum Umdenken
Schon Anfang vergangener Woche veröffentlichte der Republikanische Club einen „Aufruf zur Solidarität“, der von zahlreichen Intellektuellen und Künstlern unterschrieben wurde. Zu den Unterstützern zählen etwa Josef Haslinger, André Heller und Gertraud Knoll. Ersucht wird, durchaus löblich, um tatkräftige Unterstützung für verschiedene Hilfsorganisationen. Nebenbei fand sich Gelegenheit, die österreichische Politik zu geißeln: In Traiskirchen würden die Flüchtlinge nicht Asyl erhalten, sondern Schande und Schmach anheimgegeben, lautet der Text: „Sie suchen Schutz in Europa und stoßen auf ein Elend, das oft an jenes Leid erinnert, dem sie mit letzter Kraft entrinnen konnten.“ Traiskirchen ist nach Ansicht der Autoren also ungefähr gleich schlimm wie Syrien. Wie weltfremd muss man sein, um das zu glauben? Oder wie polemisch, um es zu behaupten?
Es ist eine Tatsache, dass die FPÖ-Propaganda einen vernünftigen Umgang mit dem Thema Asyl extrem erschwert – und zwar nicht erst in der aktuellen Krise, sondern schon seit Jahrzehnten. Selbstverständlich ist es die Pflicht der Eliten, den rechten Parolen etwas entgegenzusetzen. Die Bundesregierung tut das aus Angst vor den Wählern oft nicht einmal halbherzig. Künstler, Vertreter von Hilfsorganisationen, Schriftsteller und Intellektuelle müssen diese Lücke füllen. Leider hilft es der guten Sache nicht, wenn dabei mit großer Geste hauptsächlich die eigene moralische Überlegenheit zur Schau gestellt wird.
Billige Polemik von oben herab bringt keinen einzigen FPÖ-Wähler zum Umdenken. Und der verbreitete Reflex, Österreich bei jeder Gelegenheit als einen vergammelten Außenposten der Zivilisation zu diffamieren, führt mit Vollgas in die Sackgasse. Die heimische Diskussionskultur ist auch deshalb so unterirdisch, weil man sich in vielen Sachfragen nur noch zwischen Extremstandpunkten entscheiden kann. Auf der einen Seite die Freiheitlichen, denen kein Instinkt zu niedrig ist, um ihn zu bedienen. Auf der anderen Seite die Moral-Guerilla, die so tut, als wäre die Realisierung der perfekten Welt lediglich eine Frage der Willensanstrengung.
In Wahrheit haben die Organe der Republik zuletzt richtig gut funktioniert
Das Flüchtlingslager Traiskirchen war über Monate ein Schandfleck, das leugnet nicht einmal die Innenministerin. Mittlerweile hat sich die Situation verbessert und wird sich wohl in den nächsten Wochen halbwegs normalisieren. So richtig herumgesprochen hat sich das aber offenbar nicht. Am Freitag wurde die Gründung der Plattform „solidArt for refugees“ bekanntgegeben. Mit dabei sind Schauspieler, Schriftsteller und andere VIPs, als Koordinator fungiert die Volkshilfe Österreich. „Die Obdachlosigkeit und die menschenrechtsverletzende Situation von Flüchtlingen in Traiskirchen muss unverzüglich beendet werden“, heißt es. Konstatiert wird ein „Multiorganversagen der Republik“.
In Wahrheit haben die Organe der Republik zuletzt richtig gut funktioniert. Das dramatische Geschehen auf der A4 wurde äußerst professionell gemanagt. Soweit sich das feststellen lässt, machten Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenministerium keine Fehler. Sie informierten die Öffentlichkeit zur richtigen Zeit und im richtigen Ausmaß. Niemand sagte etwas Unpassendes oder vergriff sich im Ton. Dass es in Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden innerhalb von nicht einmal 24 Stunden gelang, mehrere dringend Tatverdächtige auszuforschen, lässt auf effiziente Ermittlungen schließen. Den Opfern hilft das nicht mehr. Aber für die Öffentlichkeit war es ein Trost.
Gelegentlich funktioniert Österreich. Das sollte man nicht verschweigen.