Kurz geht. Und dann lässt er wählen.
Sein Auftritt am Samstag knapp nach halb acht Uhr abends brachte eine neue Dimension in die an Varianten nicht übermäßig reiche Rhetorik des Bundeskanzlers: Pathos, manche würden es Kitsch nennen. Es gehe nicht um ihn, es gehe „um Österreich“, ließ man die Journalisten und das Fernsehpublikum wissen. Das ist aus der Perspektive des Sebastian Kurz natürlich Unsinn. Dieser Satz will uns nämlich vermitteln, wäre es um ihn gegangen, hätte er also für sein eigenes Fortkommen entschieden, dann wäre er geblieben. Wir wissen freilich: Hätte Kurz zu diesem Zeitpunkt seinen Rücktritt nicht angekündigt, dann wäre er am kommenden Dienstag als Regierungschef abgewählt worden. Die Volkspartei wäre nicht mehr in der Regierung gewesen, sie hätte nicht mehr den Kanzler gestellt. Und Kurz wäre folgerichtig nicht mehr Obmann der bestimmenden politischen Gruppe der Republik gewesen und nicht deren Fraktionsvorsitzender geworden.
Auch sein Gewicht in der Europäischen Volkspartei wäre als Chef einer Oppositionspartei wesentlich geringer gewesen. Kurz zahlt mit seinem Rücktritt also sehr wohl auf das eigene Konto ein. Sein Auftritt exakt 24 Stunden zuvor, als er noch Durchhalteparolen geäußert hatte, lässt allerdings vermuten, dass er von den Granden der Volkspartei überzeugt werden musste, die nun gewählte Vorgangsweise sei besser für alle Beteiligten, als etwa die Hoffnung auf Neuwahlen nach Monaten des Chaos in einem unregierten und unregierbaren Staat.
Die Alternativen sind Hirngespinste
„Es liegt an Kurz“ heißt mein Leitartikel in der seit Samstag morgens vorliegenden Ausgabe von profil. Er müsse dem Land durch Rücktritt „einen Dienst erweisen“ schrieb ich. Daraus ist abzuleiten, dass ich die im Untertitel gestellte Frage, ob dies nun „die richtige Lösung“ sei, mit einem „ja“ beantworte: Trotz des Wissens darum, dass hier taktische Überlegungen Platz gegriffen haben. Trotz der zukünftigen Verhältnisse in der Volkspartei, die ihr Machtzentrum unverändert bei Sebastian Kurz haben wird. Trotz meiner in jenem Leitartikel vorgebrachten Argumentation, die Schuldenlast des Sebastian Kurz wiege auch abseits strafrechtlicher Konsequenzen schwer. Diese Lösung ist alternativlos: Rücktritt und ein anderer – Alexander Schallenberg – als Kanzler in der türkis-grünen Koalition.
Alle Bekundungen im Sinne von „weg mit dem türkis-schwarzen System“ sind Hirngespinste. Die entsprechenden Wortmeldungen der Opposition sind genau das: Wortkaskaden einer Opposition, die selbst keine andere Variante anbieten konnte, um das Land zu führen. Dieses Land wäre ab Dienstag mitten in der Corona-Krise ohne Regierung dagestanden. Die FPÖ hätte eine Minderheitsregierung nicht unterstützt; hätte sie eine solche Regierung unterstützt, wäre diese binnen weniger Monate zerbröselt. Eine von einer Mehrheit getragene Koalition mit der FPÖ, wie sie Herbert Kickl ultimativ gefordert hatte, wäre mit den Grünen nicht zustande gekommen. Österreich hätte einmal mehr gewählt, und nach diesen Wahlen wäre das Dilemma unverändert geblieben.
Schallenberg mit Ablaufdatum
Ist die Republik nun auf Dauer stabilisiert? Das bezweifle ich. Sebastian Kurz hatte in jener Rede postuliert, er ziehe sich zurück, bis die Vorwürfe gegen ihn geklärt seien. Damit gab er vor, es läge an ihm, darüber zu befinden, wann und gemessen an welchen Kriterien es soweit sein werde. In Wahrheit ist es aber der Koalitionspartner, der jetzt das Ultimatum gestellt hatte und dann entscheiden wird. Sigi Maurer, die Klubobfrau der Grünen ließ bereits wissen, sie „schließe aus“, dass Kurz in dieser Legislaturperiode als Kanzler zurückkehren werde – also niemals mit den Grünen.
Sebastian Kurz muss das einkalkuliert haben. Will er wieder Kanzler sein, dann kann er das nur über Neuwahlen werden. Und er will wieder Kanzler sein. Die Koalition unter Alexander Schallenberg ist eine Koalition auf Abruf.
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