Meinung

Sie hat sich nichts gegönnt

Gibt das Schicksal dir Zitronen, mach Limonade draus! Aber was, wenn es dir nicht einmal Zitronen gibt? Eine alltägliche Geschichte.

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Jetzt ist die alte Frau tot und hat sich nichts gegönnt, bis zu ihrem Ende, nichts. Gönn dir doch einmal was, haben die Kinder zu ihr gesagt, aber vergeblich. Nicht, dass viel da gewesen wäre zum Sich-etwas-Gönnen, aber so was von Askese, das hätte auch nicht sein müssen. Trübsinnig hätte man werden können vom Zuschauen.
Was hat sich die alte Frau davon erhofft, dass sie sich nichts gegönnt hat? Eine Belohnung, womöglich noch im Diesseits? Hat sie gehofft, dass das Schicksal sie einmal, auf einmal, eines Tages, wundersam entschädigen würde für ihren strengen Umgang mit sich selbst? Oder hat sie auf reichen Lohn im Jenseits spekuliert, im Paradies? Wohl kaum. In die Kirche ist sie nicht gegangen, und besonders gläubig war sie auch nicht.


Die Wahrheit ist, dass sie sich nicht in Erwartung einer Belohnung nichts gegönnt hat, sondern aus Furcht vor Bestrafung, für den Fall, dass sie sich etwas gegönnt hätte. Sie hat nicht geglaubt, dass ihr etwas zusteht. 


Gönn dir doch etwas, haben die Kinder gesagt, und sie hat geantwortet, dass sie einen Notgroschen braucht. Für den Fall, dass sie ein Pflegefall wird. Sie ist aber kein Pflegefall geworden, und jetzt haben die Kinder den Notgroschen und können sich was gönnen, wenn sie ihn ausgeben.


Die Kinder wollten den Notgroschen nicht erben, wirklich nicht. Es wäre ihnen lieber gewesen, die Mutter hätte sich etwas gegönnt. Wenn sie allerdings doch ein Pflegefall geworden wäre, wäre es ihnen wahrscheinlich lieber gewesen, dass ein Notgroschen da war, als dass sie von ihrem Geld hätten aufkommen hätten müssen für die Pflege der alten Frau. Dann wären  sie vielleicht ein bisschen sauer gewesen, wenn die Alte vorher die Korken knallen hätte lassen, statt etwas für Notfälle zur Seite zu legen.
Wie lange der Notgroschen gereicht hätte, weiß man nicht. Zum Glück wurde er ja nicht gebraucht, und deswegen können die Kinder es jetzt von Herzen bedauern, dass die Mutter nie die Korken hat knallen lassen, kein einziges Mal in ihrem Leben, was für ein Jammer.


Die Alte hat jedenfalls eisern gespart, anders als eisern ging es nicht. Wer sich mit einem Einkommen wie dem ihren was auf die Seite legen will, muss eisern sparen und darf sich nichts gönnen, sonst ist gleich alles weg.

Die alte Frau hat nicht geglaubt, dass ihr was zusteht, weil ihr nichts zugestanden wurde.

Spartanisch. Karg. Freudlos. Das fällt einem ein, wenn man an sie denkt. Am Stock ist sie zum Arzt gehumpelt, ein Taxi war undenkbarer Luxus. Die Enkel waren nicht gern bei ihr. Man würde lieber berichten, dass die Enkel im bescheidenen Heim der Großmutter gelernt haben, ohne materiellen Aufwand glücklich zu sein und dass ihnen die liebevolle Zuneigung der alten Frau mehr wert war als wertvolle Geschenke, aber tatsächlich haben die Enkel die wertvollen Geschenke der anderen Großeltern durchaus geschätzt und waren lieber in deren großzügig ausgestattetem Haus, wo öfter einmal die Korken geknallt haben und fröhliche Sorglosigkeit angesagt war.

Sie hat nichts aus ihrem Leben gemacht, sagen die Kinder. Die Kinder sind überzeugt, dass man auch aus einem schlecht ausgestatteten Leben etwas Vorzeigbares machen kann, so nach dem Motto: Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus! Aber die alte Frau hat, auch als sie noch eine junge Frau war, keine Zitronen gefunden. Die Kinder sind jedoch überzeugt, dass das Leben irgendwo ein Körbchen mit Zitronen für sie bereitgehalten hat, sie hätte halt besser suchen müssen. Stattdessen hat sie geputzt und gewaschen und gekocht für die Kinder und gegen – viel zu wenig – Geld für fremde Leute. Unermüdlich (na ja, in Wirklichkeit: total ermüdet) war sie den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, die Lasten zu stemmen, die der Tag ihr aufgeladen und in den Weg geworfen hat. Sie ist einfach nicht dazugekommen, das Körbchen mit den Zitronen zu suchen. Würde sie selber sagen, wenn sie noch was sagen könnte. Die Kinder sagen: Sie hat sich den ganzen Tag damit beschäftigt, Lasten zu stemmen (bei den Kindern hört es sich an wie eine freiwillige Fitnessübung). Ob die wirklich da lagen und ob man sie nicht hätte umgehen können, wäre zu hinterfragen. Aber die alte Frau hat eben nichts hinterfragt. Wie eine vom Hochwasser Bedrohte hat sie sich täglich gegen vermeintlich eindringende Wassermassen geworfen, voll Angst, unterzugehen, wenn sie nicht all ihre Kraft ins Überleben steckt. Jeder Tag war ein Kampf gegen den drohenden Untergang. Das war es, was sie von daheim mitbekommen hatte. Statt einer Ausbildung oder einer Ausstattung die Warnung, dass sie untergehen würde, wenn sie nicht fleißig und sparsam und hart gegen sich selbst wäre.  Die alte Frau hat nicht geglaubt, dass ihr was zusteht, weil ihr nichts zugestanden wurde. 


Jetzt ist sie tot. Sie hat mir oft Palatschinken gemacht, sagt plötzlich einer der Enkel. Manchmal, wenn ich schon im Bett sein sollte, hat sie mir schnell noch Palatschinken gemacht. Das habt ihr nicht gewusst. Er lächelt verschwörerisch, fast liebevoll. So kommt die alte Frau doch noch zu einem freundlichen Nachruf. Man würde sich aber gerne vorstellen, dass sie sich im Jenseits, wenn es eines gibt, den Engelsgesang nicht durch Dienstleistungen verdienen muss.