Kommentar

Beleidigt sein ist kein Argument

Nach dem Attentat auf Salman Rushdie bleibt der Aufschrei weitgehend aus. Warum?

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Er habe keine Angst, sagte Salman Rushdie zuletzt in Interviews, sein Leben sei eigentlich ziemlich normal. Dann, am Freitag vor einer Woche, stürmte ein 24-Jähriger im Bundesstaat New York bei einer Veranstaltung die Bühne und stach ein Dutzend Mal auf Rushdie ein. Der britisch-indische Schriftsteller erlitt schwere Verletzungen und wird wahrscheinlich ein Auge verlieren. Doch er lebt.

Nach dem Angriff bangten Menschen auf der ganzen Welt um das Leben des 75-Jährigen. Ein richtiger Aufschrei blieb aber aus. Die großen Islamverbände schwiegen, es gab keine Kundgebungen, auch in der linken Twitter-Bubble war es auffallend ruhig. Ausgerechnet jenen, die sich sonst schnell empören, schien zum Angriff auf Rushdie nichts einzufallen.
Religiöse Fanatiker bedrohen den Autor seit Jahrzehnten wegen seines Romans „Die satanischen Verse“. Der iranische Despot Ruhollah Khomeini sprach 1989 eine Fatwa gegen Rushdie aus und verurteilte ihn damit quasi zu Tode. Der Vorwurf: In seinem Roman habe er den Islam, den Koran und den Propheten beleidigt.

„Es war beängstigend“, erinnerte sich Rushdie vor zehn Jahren im profil-Interview. „Dramatisch war, dass dem religiösen Eiferer eines Landes Todesschwadronen zur Seite standen.“ Diese Schwadronen gab es auch im Westen. Bereits vor der Ausrufung der Fatwa hatten Islamisten im englischen Bradford die „Satanischen Verse“ auf offener Straße verbrannt. Rushdie, über Nacht zum Symbol für die Redefreiheit geworden, erhielt Personenschutz und zog alle paar Tage um. In den vergangenen Jahren schien sich die Lage entspannt zu haben, Rushdie kehrte in die Gesellschaft zurück.

Umso schockierender ist der Angriff.

Man tut Muslimen keinen Gefallen, wenn man gegenüber Fanatikern aus ihren Reihen Milde walten lässt. 

Dass ein Autor wegen einer fiktiven Erzählung jahrzehntelang um sein Leben bangen muss, ist absurd. Bemerkenswert ist auch der Umgang mancher Moralisten mit Rushdie – und mit jenen, die ihm den Tod wünschen. In deren Logik müssen „Beleidigungen“ religiöser Gefühle vermieden werden, wenn nötig durch Zensur.

Anstatt sich geschlossen hinter Rushdie zu stellen und klar zu machen, dass gewaltbereite Islamisten keinen Platz in westlichen Gesellschaften haben, wurde der Autor kritisiert und offen angefeindet. „Der Tod ist für ihn vielleicht zu wenig“, sagte etwa Iqbal Sacranie, einer der Gründer der größten muslimischen Glaubensgemeinschaft in Großbritannien – und wurde dafür nicht etwa landesweit geächtet, sondern später sogar auf Vorschlag der Labour-Partei zum Ritter geschlagen (zwei Jahre vor Rushdie).

In den USA warf Ex-Präsident Jimmy Carter Rushdie eine „Herabwürdigung“ des Propheten und „Diffamierung“ des Korans vor. Das Buch sei eine Beleidigung von „Millionen von Muslimen“, deren „heiliger Glaube“ verletzt worden sei. Damit übernahm Carter das Wording aus dem Mordaufruf der iranischen Fundamentalisten.

Der Fatwa von 1989 folgten Taten: Der japanische Übersetzer der „Satanischen Verse“ Hitoshi Igarashi wurde 1991 in Tokio erstochen, sein italienischer Kollege sowie der norwegische Verleger bei Anschlägen schwer verletzt. In der Türkei starben 37 Menschen, als Islamisten auf der Jagd nach dem türkischen Übersetzer ein Gebäude anzündeten.

Die Meinungsfreiheit habe heute viel engere Grenzen, teilweise als Antwort auf die Rushdie-Affäre, sagt der britisch-indische Publizist Kenan Malik. Man habe die Fatwa sozusagen internalisiert: Die Ansicht, dass es falsch sei, bestimmte Gruppen zu kränken, sei weit in den Mainstream vorgedrungen.

Was macht das mit der Redefreiheit? Was macht das mit uns?

Der britische Autor Hanif Kureishi, ein Freund Rushdies, glaubt nicht, dass ein Buch wie die „Satanischen Verse“ heute überhaupt noch erscheinen könnte. Schriftsteller und Verlage schrecken schon länger vor sensiblen Inhalten zurück. Aus Angst vor Kontroversen üben sie quasi vorauseilende Selbstzensur.

Die einflussreichsten Gegner der Meinungsfreiheit sind nicht die religiösen Fanatiker, sondern selbst ernannte westliche Moralisten. Sie geben vor, Minderheiten zu schützen, betreiben aber tatsächlich (Selbst-)Zensur, um unangenehme Debatten schon im Vorfeld abzudrehen. Ausgerechnet jene, die anderswo, etwa der katholischen Kirche gegenüber, keineswegs vor Kritik zurückschrecken, verpassen sich selbst einen Maulkorb, wenn es um den Islam geht.

Es gibt kein Recht darauf, nicht verarscht zu werden. Beleidigtsein ist kein Argument, Gewalt keine legitime Antwort auf „Verletzungen religiöser Gefühle“. Man tut Muslimen keinen Gefallen, wenn man gegenüber Fanatikern aus ihren Reihen Milde walten lässt. Die allermeisten Muslime im Westen sind nicht mit Todesurteilen gegen Kritiker einverstanden. Man sollte nicht glauben, dass Zensur jemanden schützen kann.

„In dem Moment, in dem man eine Reihe von Ideen für immun gegen Kritik, Satire, Spott oder Verachtung erklärt, wird die Freiheit des Denkens unmöglich“, sagte Rushdie 2015.

Man kann es auch so sagen: In einer Gesellschaft, die freie Meinungsäußerung achtet, muss jede Gruppe Spott und Beleidigungen aushalten – und wenn nötig mit Worten dagegenhalten. Zensurieren wir hingegen alles, was jemanden kränken könnte, wäre der Schaden unermesslich. Uns würde einiges entgehen, nicht nur an Weltliteratur.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.