Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Kindeswohl

Kindeswohl

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Szenario eins: Eine Frau entschließt sich, nach einer gescheiterten Beziehung wieder in ihre Heimatstadt zurückzukehren, wo sie besser vernetzt und sozial abgesichert ist und die besseren Arbeitsmöglichkeiten hat. Ihr Kind aus der gescheiterten Beziehung nimmt sie mit. Der Vater des Kindes bleibt zurück, das Kind sieht ihn von jetzt an nur noch selten bis gar nicht. Eine Kindesentführung?

In den Augen des Kindesvaters: möglicherweise schon. In den Augen des Kindes: nein. Das Kind verreist mit seiner Mutter. Sie gibt ihm Halt und Sicherheit. Mit ihr gewöhnt es sich an die neue Umgebung. Die Trennung vom Vater empfindet es wohl als schmerzlich, wenn der Vater ein liebevoller war. Geschockt und traumatisiert ist das Kind jedoch nicht, weil es ja nicht gewaltsam fortgebracht wurde.

Szenario zwei: Die Mutter kehrt mit dem Kind in ihre Heimatstadt zurück, der Vater reist ihr nach. Mit Hilfe eines Komplizen lauert er ihr und dem Kind auf dem Weg zum Kindergarten auf, der Komplize hält die Mutter gewaltsam fest, während der Vater das Kind ergreift und fortbringt. Eine Kindesentführung? In den Augen der Mutter sicher, in den Augen des Kindes höchstwahrscheinlich auch. Es erlebt eine Situation voll physischer Gewalt, in der es selber zum hilflosen Beutestück und seine Mutter auf Geheiß des Vaters körperlich attackiert wird.

Szenario zwei ist, davon können wir ausgehen, dem Kindeswohl entschieden abträglicher als Szenario eins. Aber folgt daraus, dass der Elternteil, der das Kind zuerst in seine alleinige Obhut bringt, es für sich behalten darf, während sich der andere Elternteil – im Interesse des Kindeswohls – mit dem Verlust des Kindes abzufinden hat? Und wollen wir außer Acht lassen, dass auch Szenario eins dem Kind etwas vorenthält, worauf es eigentlich Anspruch hat, nämlich den Kontakt mit dem Vater?
Eine Generalantwort gibt es nicht. Dem Kind sollen beide Eltern erhalten bleiben, das sagt sich so leicht. In der ­Praxis bauen sich aber oft jede Menge Hürden auf (auch dann, wenn hinter der Trennung keine dramatischen Gründe stehen, die eine Distanzierung vom Expartner erforderlich machen). Müssen Menschen, die ein gemeinsames Kind haben, nach der Trennung am selben Ort wohnen bleiben? Was, wenn eine(r) von ihnen dort keinen Job mehr findet? Was, wenn eine(r) eine neue Partnerschaft anderswo eingehen möchte? Was, wenn es nicht möglich ist, dass das Kind zwischen den unterschiedlichen Wohnorten der ­Eltern pendelt?

Mit beiderseitigem guten Willen lässt sich viel hinkriegen. Öffentliches Aufsehen erregen aber zumeist Fälle, in denen es zumindest eine beteiligte Person an gutem Willen fehlen lässt. Es wäre die Aufgabe der Gerichte, herauszufinden, wer das ist und welche Lösungen dem Kindeswohl dienen. Dabei muss beachtet werden, in wessen hauptsächlicher Obhut das Kind schon vor der Trennung war und ob das bisherige Verhalten des jeweiligen Elternteils seinen Anspruch auf ein Sorgerecht glaubwürdig macht.
Stattdessen kommt es immer wieder zu äußerst befremdlichen Entscheidungen. Olivers Mutter, die Frau, deren Sohn vom Vater nach Dänemark entführt wurde, war, allen Informationen zufolge, bereits in Dänemark Alleinerzieherin. Trotzdem wurde, als sie nach Österreich zurückkehrte, dem Kindesvater in Dänemark das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Warum? Hat das dänische Gericht in einem Anfall von merkwürdigem Nationalstolz gehandelt oder verdankt sich ein solches Urteil einer allgemeinen Tendenz, die Vaterrolle unbedingt aufwerten zu wollen, als Tribut an die moderne Zeit gewissermaßen und ungeachtet aller konkreten Gegebenheiten?

Olivers Mutter wiederum hat, entnimmt man den Medien, ihren Sohn seither nicht besucht, weil sie mit einem Besuch in Dänemark den Status quo anerkennen und damit ihre Position im Sorgerechtsstreit schwächen würde.

Was sind das für Hirnrissigkeiten? Wäre es nicht das Normalste der Welt, den Kontakt zu seinem Kind aufrechterhalten zu können, ohne sich juristisch zu schaden?

Über die wahnsinnige Absicht, ein kleines Kind mit Polizeigewalt seiner Mutter entreißen und zu seinem Vater expedieren zu wollen, den es seit fünf Jahren kaum gesehen hat, wurde in dieser Kolumne voriges Mal berichtet. Der Fall ist noch nicht ausgestanden. Sofia darf zwar vorläufig in Österreich und bei ihrer Mutter bleiben, aber das Damoklesschwert einer „Rückführung“ hängt nach wie vor über ihrem Kopf. Auch hier fragt man sich, wie und aus welchen Gründen es zu einem Gerichtsbeschluss kommen konnte, der solche Konsequenzen nach sich zieht. (Für ­Sofia, deren Familie durch die anhängigen Verfahren finanziell schwer belastet ist, wurde übrigens in ihrem Heimatort ein Spendenkonto eingerichtet. Es lautet auf „Sofia“. Konto­nummer 0004-045639, BLZ 20245.)

Dass uneinige Elternteile sich selber im Recht und die andere oder den anderen im Unrecht sehen, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Dass in der öffentlichen Diskussion die bekannt gewordenen Fakten je nach persönlicher Erfahrung gewichtet und interpretiert werden, ebenfalls. Und dass es die Gerichte nicht leicht haben, so was wie die objektive Wahrheit herauszufinden, kann man gelten lassen. Aber versuchen müssen sie es. Dass stattdessen mit der ganzen Schwere des Gesetzes brutal auf dem Kindeswohl herumgetrampelt werden kann, ist schlicht skandalös.

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