Fall Karmasin: Nach dem Regen kommt die Sonne
Vor bald vier Jahren wurde Österreich von einem Erdbeben erfasst, das bis heute nachwirkt. Das Ibiza-Video, bildliches Zeugnis schamloser Korruption, sprengte die türkis-blaue Regierung. Auf eine anonyme Anzeige folgten zig Hausdurchsuchungen, aus Zufallsfunden wuchsen neue Ermittlungsstränge. Der Hauptermittlungsakt der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) hat mittlerweile 420.000 Seiten. Es geht um Delikte wie Bestechung, Bestechlichkeit, Geldwäsche, Untreue, Amtsmissbrauch und und und. Rund 50 Beschuldigte identifizierte die Justiz – von Ex-Kanzler Sebastian Kurz abwärts. Die Republik steht vor einem politisch-moralischen Scherbenhaufen.
Diese Woche beginnt mit dem Prozess gegen Ex-Ministerin Sophie Karmasin die Endabrechnung zu diesem demokratiepolitischen Desaster. Karmasin wird die erste, aber sicher nicht die letzte hochrangige ÖVP-Politikerin sein, die sich vor Gericht verantworten muss. Der Vorwurf: unzulässige Gehaltsfortzahlungen und rechtswidrige Absprachen bei Vergabeverfahren. Das vermutete Motiv: Gier. Wie es aussieht, könnten ihr noch einige Ex-Minister und hochrangige Beamte folgen – inklusive Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Freilich bestreiten alle Beschuldigten die Vorwürfe.
Dass klare Urteile gesprochen werden, ist dringend überfällig, damit das Land wieder zur Ruhe kommt. Im Idealfall stellen die Sprüche eine Grundordnung wieder her: für die Beschuldigten selbst. Wer zu Unrecht beschuldigt wurde, wird seine weiße Weste wiederbekommen, und kann wieder ein normales Leben führen. Ein Beschuldigtenstatus ist sehr belastend – dem sollte zügig Rechnung getragen werden.
Darüber hinaus ist von diesen Urteilen noch weit größere Wirkungskraft zu erwarten: Sie könnten das Fundament gleich mehrerer Säulen der Demokratie neu formen.
Zunächst die Justiz selbst: Momentan sind Oberbehörden, Fachaufsicht und Ministerium teils gelähmt, weil niemand weiß, wie bestimmte Dinge zu werten sind – und wie heiß manche Vorwürfe tatsächlich sind. Am Ende des zu erwartenden Prozessreigens muss klar sein, wo die roten Linien zu illegalen Postendeals – schlampig-verharmlosend „Freunderlwirtschaft“ genannt – verlaufen. Was bisher als Gefallen gewertet wurde, wird künftig im Verständnis vielleicht eher Bestechung oder Bestechlichkeit sein. Und großzügige, öffentliche Aufträge an langjährige, gut bekannte Geschäftspartner könnten da und dort doch als Untreue gewertet werden. Außerdem werden auch die Regeln für den Umgang mit Kronzeugen ganz neu geschrieben – denn das hat es so in dieser Art bisher auch noch nicht gegeben.
Auch bei der Exekutive braucht es ein neues Mindset: Regierung und Verwaltungsbehörden müssen erkennen, welche Entscheidungen und Jobvergaben tatsächlich in ihre Kompetenz fallen und welche sie sich bisher bloß angemaßt haben, weil alle im Lande annehmen, dass es immer so gewesen sei. Sideletter und Hinterzimmerabmachungen, die Stellenausschreibungen zur Staffage werden lassen, sind Teil einer verkommenen politischen Kultur.
Dass sich in der Liste der Beschuldigten und Angeklagten ehemalige höchste Amtsträger finden, ist jedoch auch ein gutes Zeichen: Die Gewaltenteilung funktioniert, mächtige Freunde und politischer Einfluss schützen in Österreich nicht vor einem Strafverfahren. In Israel gehen seit Monaten hunderttausende Menschen auf die Straße, unter anderem, um dieses Element des Rechtsstaates zu verteidigen.
Die Spielregeln und Urteile müssen aber glasklar sein. Sonst entstehen wieder Unsicherheiten, Angst ist kein guter Berater, Mutlosigkeit der Killer für jedes ambitionierte Reformvorhaben. Wer etwas durchziehen will, braucht nicht nur die vom Volk verliehene Macht – sondern auch den Schneid.
Schließlich die Medienbranche. Es wird auf offener Bühne zur Schau gestellt, was man schon lange ahnte – die enge Verquickung von Politik und Boulevard. Es geht um einen Austausch von Einfluss und (öffentlichem) Geld, der die einen mächtiger und die anderen reicher macht. Die Familie Dichand, die über das Imperium von „Heute“ und „Kronenzeitung“ wacht, ist ebenso beschuldigt wie die Brüder Fellner, denen „Österreich“ gehört. Die Urteile werden die Regeln deutlich machen, und nebenbei haben individuelle Schuld- und Freisprüche auch den Effekt, generalisierende Schuldzuweisungen an „die Medien“ zu zerstreuen.
Die Justiz muss ihren Part untadelig erledigen, aber auch die Öffentlichkeit muss verantwortungsbewusst agieren. Die rechtliche Interpretation der Sachverhalte ist eine komplexe Aufgabe, Vorverurteilungen schaden dem Rechtsstaat ebenso wie das Lächerlichmachen von Urteilen. Respekt gegenüber der Justiz ist in Zeiten des wüsten Populismus keine Selbstverständlichkeit.
Ibiza und alles, was danach ans Tageslicht kam, haben das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen zerstört. Jetzt muss es wiederhergestellt werden.