Superwahljahr: Plädoyer für die Pausetaste von der schrillen Dauergereiztheit
Der Rahmen war glänzend, die Stimmung feierlich, die Festreden strotzten vor erhabenen Plänen: respektvoll miteinander umgehen, andere Meinungen respektieren, das Vertrauen in die Demokratie sanieren. So tönten die Polit-spitzen vor einem Jahr bei der Eröffnung des prachtvoll renovierten Parlaments. Wie viele Neujahrsvorsätze hielt auch dieser nicht lange, bald wurde wieder mit Verve gepoltert und gezankt. Das Gros der Bevölkerung erwartet sich ziemlich exakt das Gegenteil von der Politik – nämlich: Probleme lösen! Weniger streiten! Derartige Wünsche kann man für naiv halten. Für realitätsfremd. Oder für verständlich.
Denn seit fast einem Jahrzehnt steckt die Innenpolitik im atemlosen Dauerhyperventiliermodus. Aufgeregter! Schriller! Lauter! 2015: Flüchtlingskrise. 2016: Dauerduell um den Bundespräsidenten. 2017: Sebastian Kurz, Christian Kern, Silberstein, Projekt Ballhausplatz. 2018: Türkis-Blau, Razzia im BVT. 2019: Ibiza-Skandal, Notregierung. 2020: Corona-Ausnahmezustand. 2021: Machttrunkene Chats, Korruptionsermittlungen. 2022: Ukraine-Krieg, Energiekrise. 2023: Teuerung, SPÖ sucht Parteichef, Israel-Gaza-Krieg.
Zwei große Verlierer des Superwahljahrs zeichnen sich ab: die ÖVP, bei der nach den High-Ergebnissen unter Ex-Superstar Sebastian Kurz der bittere Kater und Serienverluste unvermeidlich sind. Und die Grünen.
Uff, Dauerkrisen ohne Pausetaste. Immer erhitzter dreht sich die Erregungsspirale, genüsslich befeuert von den Krawallorganen der Boulevarddemokratie Österreich. Und von den Rechtspopulisten, Geplärre ist deren Geschäft.
Reichlich erschöpft und angewidert vom hektischen Dauerabenteuer Politik, das nie Pause macht, schleppt sich das Wahlvolk genervt ins Superwahljahr 2024. Oft erschien der Begriff heillos übertrieben, etwa für zwei mäßig nervenzerfetzende Regionalwahlen. Heuer stimmt die inflationär verwendete Bezeichnung ausnahmsweise, 2024 ist wirklich ein Superwahljahr. Mit 4,2 Milliarden Menschen lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in einem der 76 Staaten, in denen die Politweichen neu gestellt werden. Unter reichlich turbulenten Vorzeichen, die Demokratie steht am Prüfstand: Der rabiate Schreihals Donald Trump nimmt Kurs aufs Präsidentenamt der USA, bei der EU-Wahl wird ein Ansturm der Rechtspopulisten befürchtet.
Auch in Österreich stehen gravierende Umwälzungen an: In der Festspielstadt Salzburg scheint ein kommunistischer Bürgermeister durchaus realistisch, ansonsten gilt als Grundmuster fix: 2023 war das Aufwärmjahr für das blaue Comeback, die FPÖ zog in zwei Landesregierungen ein. 2024 findet mit der Nationalratswahl das Hauptrennen statt. In Poleposition: Herbert Kickl und die FPÖ.
Zwei große Verlierer des Superwahljahrs zeichnen sich ab: die ÖVP, bei der nach den High-Ergebnissen unter Ex-Superstar Sebastian Kurz der bittere Kater und Serienverluste unvermeidlich sind. Und die Grünen: Seit über zwei Jahrzehnten, seit der Pioniertat Schwarz-Grün 2003 in Oberösterreich, regierten sie stets mit, zur Hochzeit um 2014 saßen sie mit Wien, Salzburg, Kärnten, Vorarlberg und Oberösterreich sogar in fünf Landesregierungen. 2024 könnte das bittere Erwachen kommen, die Grünen erstmals seit 2002 überall auf die Oppositionsbank verbannt sein.
Taktisches Geplänkel, wer mit wem koalieren könnte, um Kickl zum Nichtkanzler zu machen, wird nicht weiterhelfen. Nachhecheln im Populistenwettrennen und Gedöns gegen Gendern-Klimakleber-Superreiche auch nicht.
Die Regierungsparteien im Bund haben am meisten zu verlieren. Taktisches Geplänkel, wer mit wem koalieren könnte, um Kickl zum Nichtkanzler zu machen, wird nicht weiterhelfen (und stellt die ÖVP vor den kuriosen Spagat, die FPÖ als Regierungspartner hui, deren Parteichef aber pfui zu finden). Nachhecheln im Populistenwettrennen und Gedöns gegen Gendern-Klimakleber-Superreiche auch nicht. Provokateur Kickl wird immer greller sein.
Die Koalitionsparteien haben es in der Hand, andere Töne zu setzen: etwa jene des vergleichsweisen verlässlichen Regierens (während die FPÖ stets hochkant scheiterte). Die schwarz-grüne Koalition agiert besser als ihr Ruf, hat einige Erfolge (kalte Progression, Klimaticket) vorzuweisen – und, wenn sie bis September durchhält, trotz der Polykrisen das seltene Kunststück der vollen Legislaturperiode geschafft. Das gelang seit 1990 lediglich zwei Regierungen.
Auch inhaltlich bringt der scharfe Blick aufs Unwesentliche und auf Triggerthemen außer Dauergereiztheit wenig. Viel sinnvoller also, die verbleibenden Koalitionsmonate für Wichtiges zu nutzen. Etwa: Österreich verliert gefährlich an Wettbewerbsfähigkeit, eine lohnende Gemeinschaftsaufgabe für die Willigen. Genauso wie die immer noch überhöhte Teuerung. Oder die heikle Frage Migration: Ohne Zuwanderung stehen Branchen wie Pflege oder Tourismus vor dem Zusammenbruch, klare Regeln für alle im Einwanderungsland Österreich sind aber notwendig. Ja, auch derart emotional aufgeladene Themen können pragmatisch diskutiert werden, denn die oft herbeigeschriebene Polarisierung ist weniger ausgeprägt als angenommen, wie eine Studie des Foresight-Instituts zeigt. Fazit: Die gespaltene Gesellschaft ist ein Mythos. Die Mehrheit will vor allem: Ruhe.
Es gibt also keinen Grund für demokratische Kräfte, ständig Triggerpunkte zu drücken und die Dauergereiztheit neu anzufachen. Niemand muss bei jeder Aufregung mitmachen, in jedem Rudel mitbellen, zu allem sofort eine möglichst drastische Meinung hinausschmettern. Lauter ist meist nur extremer. Und schreckt die stille Mitte ab.
Gebrüll ist der Grundton der Rechtspopulisten, Scharfmachen ihr Erfolgsrezept, Furcht ihr Dünger. Für die anderen bleibt: sachkundig regieren, kompetent kontrollieren, beherzt Zukunftskonzepte entwickeln. Als Neujahrsvorsatz gegen die Angstlust.