Sven Gächter: Angst und Zecken
Vergangenen Dienstag waren André Breitenreiter, Trainer des deutschen Bundesligaclubs Schalke 04, und seine Familie auf dem Weg in das Stadion von Hannover, um sich das Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden anzusehen. 90 Minuten vor Anpfiff wurde das Match wegen einer „konkreten Gefahrenlage“ (so der Hannoveraner Polizeipräsident) abgesagt. „Wir haben schnellstmöglich den Weg nach Hause gesucht. Mein Sohn hat geweint“, erzählte Breitenreiter am Donnerstag auf einer Pressekonferenz. Sein Sohn ist zwölf Jahre alt. Er weinte nicht aus Enttäuschung über den verdorbenen Fußballabend, sondern „weil er Angst hatte“, so Breitenreiter: „Das ist schon ein brutaler Eingriff in die Lebensqualität und Freiheit, die wir hier genießen.“
Über den Charakter und das Ausmaß der terroristischen Bedrohung in Hannover hüllten sich die Behörden in Schweigen. Es gab keine Festnahmen, auch Sprengstoff wurde nicht gefunden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière bat die Bevölkerung trotzdem um einen „Vertrauensvorschuss“: Aus Rücksicht auf aktuelle und zukünftige Ermittlungen könne man keine detaillierten Informationen preisgeben.
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Wir sind eingeschüchtert, wir sind verunsichert, beunruhigt, alarmiert, vielleicht sogar panisch.
In Frankreich ist unterdessen der von Präsident François Hollande unmittelbar nach der Anschlagsserie am 13. November in Paris verhängte Ausnahmezustand um drei Monate verlängert worden. Er sieht zum Teil drastische Beschneidungen der Bürgerrechte vor. So können ohne großen bürokratischen Aufwand Ausgangssperren erlassen, Demonstrationen verboten, Plätze und Veranstaltungsorte geräumt, Lokale geschlossen, Websites blockiert, Hausdurchsuchungen angesetzt oder Hausarreste verfügt werden. Die französische Nationalversammlung verabschiedete die entsprechende Gesetzesvorlage am Donnerstag mit überwältigender Mehrheit (551 gegen sechs Stimmen). Laut jüngsten Umfragen sind 84 Prozent der Franzosen bereit, für mehr Sicherheit Freiheitseinschränkungen in Kauf zu nehmen. Ähnlich hohe Zustimmungsraten genießt die Forderung nach massivem Militäreinsatz gegen den „Islamischen Staat“.
„Wir lassen uns von den Terroristen nicht einschüchtern“, lautet das westliche Durchhalte-Mantra der Stunde. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Wir sind eingeschüchtert, wir sind verunsichert, beunruhigt, alarmiert, vielleicht sogar panisch. Und wir sind es zu Recht. Wenn jederzeit irgendwo ein dschihadistisches Killerkommando zuschlagen kann, wird man sich doch noch fürchten dürfen! Alles andere wäre fahrlässig – so wie es aus Sicht einer verantwortungsbewussten Exekutive fahrlässig wäre, keine geeigneten Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Die Freiheit hat ihren Preis, heißt es nun oft, immer öfter. Der Preis der Freiheit ist offenbar deren Preisgabe, und da es dazu nach staatstragendem Ermessen keine Alternative gibt, haben die mörderischen IS-Zecken in gewisser Weise ohnehin schon gewonnen. Sie können uns zwar nicht ihr vorzivilisatorisches Weltbild und ihr brachial-repressives Regime aufzwingen, aber sie zwingen uns dazu, den liberalen, pluralistischen, weltoffenen way of life, zu dem wir uns nachdrücklich bekennen, in zentralen Bereichen außer Kraft zu setzen. Sie haben Frankreich in den Ausnahmezustand gebombt, was einer Lahmlegung des öffentlichen Lebens gleichkommt. Sie haben die Absage von zwei Länderspielen (Deutschland-Niederlande, Belgien-Spanien) bewirkt, und es wird nicht bei diesen beiden Matches bleiben, ganz zu schweigen von anderen Sport- oder Konzertveranstaltungen.
In diesem Paradox liegt der, wenn nicht blutigste, so doch perverseste Triumph des dschihadistischen Vernichtungsprojekts.
Laut der gängigsten Definition dient Terrorismus dem Zweck, Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Schrecken muss dabei gar nicht zwangsläufig eintreten – die Angst davor genügt vollauf. Das kollektive westliche Bewusstsein ist spätestens seit 9/11 mit Angst kontaminiert, und jeder neue Anschlag führt zu einer Verschärfung dieses Syndroms. Nach der bestialischen Logik des „Islamischen Staats“ geht das vielleicht nicht als durchschlagender, aber mit Sicherheit als achtbarer Erfolg durch. Wenn man das System schon nicht umstürzen kann, so will man es zumindest erschüttern, nach Möglichkeit in seinen Grundfesten.
Die Mechanismen, die unser System unter dem Eindruck der terroristischen Bedrohung implementiert, stellen ihrerseits eine ganz andere Systembedrohung dar: die schleichende Abschaffung dessen, was es unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis zufolge mit allen Mitteln zu verteidigen gälte – die bürgerliche Freiheit. Sie kann allem Anschein nach nur geschützt werden, indem sie zur Disposition gestellt wird. In diesem Paradox liegt der, wenn nicht blutigste, so doch perverseste Triumph des dschihadistischen Vernichtungsprojekts.