Sven Gächter: Vote for Sascha!
Manchmal hat Pathos seine Berechtigung. Weil es den Ernst einer Lage verdeutlicht. Weil es das Bewusstsein schärft, wenn zivile Verdrossenheit überhandzunehmen droht. Weil es hinlänglich bekannten Argumenten emotionalen Nachdruck verleiht. Weil es in manchen Fällen einfach keinen kürzeren Weg zur richtigen Erkenntnis gibt.
Deshalb also: Diese Wahl ist eine Schicksalswahl.
Das war sie nicht von vornherein. Als sich vor elf Monaten das Kandidatenfeld für die Nachfolge von Heinz Fischer formierte, blieb die öffentliche Anteilnahme überschaubar. Die Bundespräsidentenwahl hatte seit der Ära Waldheim keine besonderen kollektiven Emotionen mehr freigesetzt. 2016 schien sich daran zunächst nichts zu ändern: Man nahm durchaus gefasst zur Kenntnis, dass die SPÖ den nächstliegenden Hofburg-Aspiranten ins Rennen schickte, die ÖVP den zweitbesten und die FPÖ einen außerhalb von Insiderkreisen weithin unbekannten. Die Grünen nominierten einen Ex-Grünen, der mit den Grünen jedoch gar nicht so viel zu tun haben wollte. Außerdem im Angebot: eine ehemalige Höchstrichterin und Untersuchungskommissionsvorsitzende sowie ein Society-Fossil.
Es folgte ein erster Durchgang mit einer fulminanten Zwischenbestzeit für Norbert Hofer, glatten Disqualifikationen für Rudolf Hundstorfer und Andreas Khol und einem Kopf-an-Kopf Fotofinish zwischen Irmgard Griss und Alexander Van der Bellen, das dieser „arschknapp“ für sich entschied. Es folgte eine Stichwahl, die erst nach Auszählung der Wahlkarten für Van der Bellen gewertet werden konnte. Darauf folgten: eine Wahlanfechtung durch die FPÖ, eine Aufhebung der Stichwahl durch den Verfassungsgerichtshof, die Ansetzung eines Neuwahltermins für den 2. Oktober und dessen alsbaldige Widerrufung aufgrund fehlerhaft verleimter Wahlkarten.
So weit die Pleiten-, Pech- und Pannenchronik, die in Österreich für fortschreitenden Verdruss und im Ausland für mitleidige bis hämische Erheiterung sorgte. Im Ausland wiederum beschleunigte sich unterdessen eine Dynamik, für die Österreich seit Jörg Haider mit Fug und Recht das Copyright beanspruchen darf. Völlig überraschend votierten die Briten am 23. Juni in einem Referendum mehrheitlich für den Austritt aus der EU, und die Amerikaner wählten am 8. November Donald Trump zum nächsten Präsidenten der USA. In beiden Fällen brach sich ein schon länger schwelender zivilgesellschaftlicher Furor Bahn und fegte die Vernunft- und Kontinuitätsagenden des sogenannten Establishments unbekümmert weg. Das „System“ und seine verhassten Repräsentanten bekamen einen historischen Denkzettel verpasst (von dem sich voraussichtlich auch die Gegner nicht so schnell erholen dürften).
Will Österreich sich offiziell in den neuen Macht-kaputt-was-euch-kaputt-macht-Mainstream einklinken oder gibt man einem aufgeschlossenen, weltoffenen, nicht-revanchistischen Politikverständnis den Vorzug?
Die Ausgangslage vor der zweiten Bundespräsidentenstichwahl ist jedenfalls eine grundlegend andere als jene am 22. Mai. Nach Brexit und Trump muss Österreich nicht mehr fürchten, vom Rest der zivilisierten Welt als unrühmliche Avantgarde des Rechtspopulismus geächtet zu werden. Die Hemmschwellen sind auch anderswo dramatisch gesunken; Rabiatnationalismus und Ausländerfeindlichkeit gelten mittlerweile in weiten Kreisen als salonfähig. Dass der wutbürgerliche Durchmarsch in gefestigten Demokratien wie Großbritannien und den USA ausgerechnet bei uns eine heilsame Schockwirkung entfalten könnte, ist wohl eine fromme liberale Illusion.
Deshalb muss nun tatsächlich eine Richtungsentscheidung getroffen werden: Will Österreich sich offiziell in den neuen Macht-kaputt-was-euch-kaputt-macht-Mainstream einklinken oder gibt man einem aufgeschlossenen, weltoffenen, nicht-revanchistischen Politikverständnis den Vorzug? Am 4. Dezember stehen genau und nur diese beiden Optionen zur Wahl. Norbert Hofer hat es in den vergangenen elf Monaten geschafft, seine gesellschafts- und demokratiepolitisch durchweg radikalen Positionen mit dem aufgesetzten Habitus von Besonnenheit und Bürgernähe zu verschleiern. Dass er zeit seiner Karriere (nicht zuletzt auch als Dritter Nationalrats- und interimistischer Bundespräsident) Teil und Profiteur jenes Systems war, gegen welches er und seinesgleichen so gern agitieren, begründet zudem ein massives Glaubwürdigkeitsdefizit. Doch dafür hatten sich freiheitliche Politiker bemerkenswerterweise noch nie vor ihren Anhängern zu rechtfertigen.
Alexander Van der Bellen dagegen verkörpert ein Österreich, das aus seiner Vergangenheit die richtigen Lehren gezogen hat und die Republik weiterhin in einem aufgeklärten Wertekanon verankert wissen will. Darin gelten Menschenrechte als universal, autoritäre Machtfantasien als verfassungswidrig, neo-nationalistische Tendenzen als gemeingefährlich und alle individuellen Lebensformen als gleichwertig. Kurz: Alexander Van der Bellen steht für alles, womit Österreich zu einem durchaus herzeigbaren Erfolgsmodell in der jüngeren Geschichte der westlichen Demokratien werden konnte. Er ist, um die Bedenken der Unentschlossenen aufzugreifen, nicht das Geringere von zwei Übeln – er ist in heillos wütenden Zeiten das Beste, was einem Land auf der verzweifelten Suche nach einem nicht nur mehrheits-, sondern auch konsensfähigen Bundespräsidenten passieren kann. So viel Pathos muss sein.