Georg Hoffmann-Ostenhof: Wählt Tsipras!
Um es gleich vorwegzunehmen: Wäre ich Grieche, ich stimmte kommenden Sonntag für Syriza und ihren Spitzenkandidaten Alexis Tsipras mit der Überlegung, dass deren Sieg nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa gut wäre. Wie das?
Als Ende des vergangenen Jahres die griechischen Wahlen vorverlegt wurden und die Umfragen zeigten, dass die Radikale Linke von Syriza und ihr charismatischer Chef Tsipras das Rennen machen könnten, da brach in den europäischen Staatskanzleien helle Panik aus. Wieder drohen die Griechen, die EU und den Euro in den Abgrund zu reißen, lautete der Tenor.
Die deutsche Bundesregierung ließ durchsickern, dass man diesmal nichts gegen das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone einzuwenden hätte, sollte Tsipras Regierungschef in Athen werden. Berlin drohte also implizit mit dem Grexit. Der amtierende konservative griechische Premier Antonis Samaras versuchte, nicht zuletzt mit dieser deutschen Drohung die Wähler doch noch auf seine Seite zu bringen. Auch aus anderen europäischen Staatskanzleien wurden die Griechen dringend ermahnt, vernünftig zu wählen. Der Internationale Währungsfonds wiederum ließ es nicht bei Drohungen bewenden: Eine versprochene Kredit-Tranche überwies man einfach nicht. Man wolle bis nach den Wahlen warten, hieß es.
Bloß: Die Griechen ließen sich von diesen geradezu scham- und beispiellosen Einschüchterungsversuchen wenig beeindrucken. Sie halten daran fest: Die bisherige Politik, die breite Teile der Bevölkerung ins Elend gestürzt hat (die Löhne etwa sind in den letzten Jahren um 30 bis 50 Prozent gefallen), wollen sie nicht länger ertragen. In den Umfragen liegt Syriza seit Wochen stabil in Führung. Der Sieg der Linken am kommenden Sonntag bleibt der wahrscheinlichste Wahlausgang.
Gewiss: Tsipras und seine Leute tönen heute weit weniger revoluzzerhaft als noch vor wenigen Monaten. Sie zeigen sich immer mehr von ihrer pragmatischen Seite. Sie wollen, so wie auch die überwältigende Mehrheit der Griechen, auf jeden Fall in der Eurozone bleiben, betonen sie. Die radikale Abkehr von der für das Land so verheerenden europäischen Austeritäts-Politik bleibt aber ihr Programm. Und Reformen, welche die Ärmsten der Griechen voll erwischt haben, sollen zurückgenommen werden. Aber das will man durch Verhandeln erreichen. Und nicht dadurch, dass man einfach Kreditrückzahlungen stoppt und eingegangene Verpflichtungen unilateral aufkündigt.
Syriza sei kein Ungeheuer, versicherte Tsipras vor einigen Tagen in einem Kommentar im deutschen Handelsblatt. Dessen hätte es aber gar nicht mehr bedurft. Vom Grexit spricht inzwischen keiner mehr. Offenbar haben sich die führenden Kreise Europas damit abgefunden, demnächst mit Premier Tsipras am Verhandlungstisch zu sitzen. Ihm und seiner Partei schlägt sogar immer mehr Sympathie entgegen. Auch von unerwarteter Seite.
So lobt etwa die Financial Times (FT) das Vorhaben von Syriza, sich mit den Oligarchen anzulegen mit jener Handvoll reicher Familien, die seit über einem Vierteljahrhundert die griechische Politik beherrscht, sich alle Aufträge zuschanzt, keine Steuern zahlt und auch in den Jahren der Krise unbehelligt blieb. Werde durch die neulinken politischen Newcomer ihre Macht gebrochen, würde erst so richtig ökonomischer Wettbewerb entstehen, argumentieren Tsipras und seine Berater. So etwas gefällt natürlich dem wirtschaftsliberalen britischen Blatt.
Auch sonst ist man da überaus gelassen. Ist die Forderung von Syriza nach einem teilweisen Schuldennachlass nicht zu radikal?, fragt die FT. Die Idee ist so radikal, dass bisher fast jeder Mainstream-Ökonom dafür war, lautet die ironische Antwort. Und die Zeitung weist darauf hin, dass im November 2012 die Finanzminister der Eurozone versprachen, einen zusätzlichen Schuldennachlass zu gewähren, sobald Griechenland einen primären Budgetüberschuss hat und einige Reformen durchgeführt sind ein Versprechen, das seit einem Jahr nicht eingelöst wird.
Wenn Tsipras die bisherige EU-Politik gegenüber Griechenland fiskalisches Waterboarding nennt, eine Politik, die der Wirtschaft den Atem nimmt, aber gleichzeitig den Schuldenberg nicht abträgt, sondern noch erhöht, dann drückt er mit seiner Kritik in scharfer Form nur das aus, was so offensichtlich ist, von anderen europäischen Politikern aber nur vorsichtig ausgesprochen wird: Die Austeritäts-Politik ist nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa grandios gescheitert. Man braucht sich ja nur die Zahlen anzusehen.
Sollte Tsipras tatsächlich eine Regierung bilden können, wird Europa mit ihm wohl einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss finden. Man wird Griechenlands Schulden auf ein erträgliches Maß reduzieren und Athen einige besonders ungerechte und sozial unverträgliche Reformen zurücknehmen lassen.
Ein Syriza-Sieg könnte aber auch ein Signal sein für das, was in Europa dringend nottut: für eine große Wende weg von der Sparpolitik hin zu einem gezielten Wachstumskurs. Ansatzweise und vorsichtig hat Brüssel mit diesem Politikwechsel schon begonnen. Die Wahlen in Hellas könnten diesem nun wirklich zum Durchbruch verhelfen.
Griechenland stand am Anfang der europäischen Krise. Nun könnte es Griechenland sein, das auch den Ausweg aus der Krise weist. Womöglich wird man Ende 2015 überlegen, den Radikallinken Alexis Tsipras zu Europas Mensch des Jahres zu küren.