Kommentar

Dagegen Wählen

Mit der eigenen Stimme politisch etwas verhindern zu wollen, steht hinter so mancher Wahlentscheidung. Für den Grundgedanken der Demokratie und ihrer Institutionen ist das bedenklich.

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„Verhindere einen verheerenden Sieg populistischer Parteien bei der Landtagswahl 2024, indem du deine beiden Stimmen taktisch klug einsetzt.“ Die Initiative „Taktisch Wählen“ bot vor der Wahl im deutschen Bundesland Brandenburg ein besonderes Service an: Auf einer Homepage konnten Wähler:innen die strategischen Auswirkungen ihrer Stimmabgabe durchrechnen lassen. Dabei ging es klar darum, durch gezielt taktisches Wählen unerwünschte Fraktionen zu schwächen – statt gewünschte Positionen zu stärken. Im Interview mit der „Zeit“ warb parallel dazu eine Kandidatin der Grünen in ihrem Wahlkreis dafür, nicht die Grünen, sondern strategisch die aussichtsreichere SPD zu wählen – um ein AfD-Direktmandat zu verhindern. Sogar CDU-Politiker und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach eine Wahlempfehlung für die Sozialdemokraten im Nachbarbundesland aus. Mehr Taktik geht nicht mehr. 

Die SPD wurde bekanntlich erste Kraft in Brandenburg, die CDU stürzte ab, die Grünen haben es nicht in den Landtag geschafft. Aber: Ein erster Platz für die AfD konnte verhindert werden. Was die einen als gelungenen Schulterschluss gegen rechts feiern, macht andre nachdenklich. Denn der praktischen Preis, den kleinere Parteien für die taktische AfD-Verhinderung zahlten, ist groß.

Taktisches Wählen bildet nicht mehr die tatsächliche Präferenz der Wählerschaft ab, sondern ein Kalkül. Das schwächt demokratische Entscheidungen. 

Jetzt ist Österreich nicht Brandenburg – und vor allem das Wahlsystem ein anderes. Doch in den Tagen vor der Nationalratswahl 2024 sind Soziale Medien voll von Artikeln und Grafiken, Argumenten und Analysen zum taktischen Wählen. Der Tenor dabei ist immer gleich: Wie kann ich durch mein Kreuz auf dem Stimmzettel gezielt bestimmte Konstellationen verhindern, um etwa Mehrheiten jenseits der FPÖ zu stärken? Unter dem Titel „Taktisches Wählen, aber wie?“ veröffentlichte zuletzt der „Standard“ eine digitale „Gebrauchsanweisung für Wahlkabinen-Strategen“.

Aufgebaut sind all diese Überlegungen auf möglichen Verschiebungen der Mandatsverteilungen im Nationalrat. Da geht es um Prozentrechnung und wechselnde Mehrheiten, um Strategie statt um Inhalt. Doch was auf den ersten Blick nur allzu vernünftig, ja sogar besonders schlau erscheint, hat seine Tücken – und birgt die Gefahr, das demokratische System zu untergraben. 

Beschränkt sich das Taktieren auf eine kleine Gruppe von Wähler:innen, sind die Effekte überschaubar. Wird jedoch großflächig rein strategisch gewählt, wird das Wahlergebnis übermäßig verzerrt. Es bildet dann nicht mehr die tatsächliche Präferenz der Wählerschaft ab, sondern ein Kalkül. Das kann darauf aufbauende Regierungen schwächen, Unzufriedenheiten mit der dann tatsächlich regierenden Politik verstärken. Grundidee ist ja, das Volk nach seinem konkreten Willen zu fragen – und nicht dessen generellen Unwillen abzubilden.

Dasselbe Schreckensszenario zu teilen, scheint aktuell der stärkste politische Mechanismus zu sein, um Gemeinschaft zu schmieden.

Dazu birgt strategisches Wählen eine massive Unsicherheit: Die gewünschten Effekte beruhen auf Berechnungen, die wiederum auf Umfragen. Wählen jetzt alle rund um die Strateg:innen anders als prognostiziert, können unerwartete, ja gar gegenteilige Effekte eintreten. Taktiken produzieren auch immer Verlierer. In den meisten Fällen geht strategisches Wählen auf Kosten von Kleinparteien – wie in Brandenburg. Kalkulierte Stimmabgabe im großen Stil kann aber auch die Großen schwächen. Die Überlegung in Österreich etwa, KPÖ zu wählen und mit deren Einzug mandatsmäßig Blau-Schwarz zu verhindern, macht die Stimmenverteilung im Nationalrat kleinteiliger und mögliche Regierungsbildungen für alle schwerer.

Zudem verstecken sich hinter so mancher taktischen Empfehlungen die mal besser mal schlechter getarnten Interessen einzelner Parteien, die mit Angst und Schreckensszenarien überzeugen wollen, statt mit politischen Inhalten. 

Gegen etwas zu sein – und nicht für etwas. Diese Grundhaltung in Wahlüberlegungen ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Sie sind als ein Teil des demokratischen Systems Spiegel einer allgemeinen politischen Gemengelage. Da ist es in vielen Parteien zuletzt zum stärksten Argument geworden, den politischen Gegner zu verhindern. Konkrete Inhalte werden dabei von plakativen Verhinderungsszenarien überdeckt. Gemeinsam gegen etwas zu sein oder dasselbe Schreckensszenario zu teilen, scheint aktuell der stärkste politische Mechanismus zu sein, um Mehrheiten oder Gemeinschaft zu schmieden.

Konstruktive Wahlentscheidungen beleben den demokratischen Gedanken wieder, gemeinsam für etwas zu sein – und nicht immer nur dagegen.

Politisch ist das bereits mittelfristig problematisch. Gelingt es Parteien nicht, durch positive Szenarien zu überzeugen, sich für eine konkrete inhaltliche konstruktive Zukunftsperspektive stark zu machen, bleibt der Angst-Nährboden für Populisten weiter fruchtbar. 

Wie man als Wähler:in damit umgeht? Erst einmal, indem man wählen geht. Und zweitens, indem man darüber nachdenkt, die politische Negativspirale des bloßen Verhinderns zu durchbrechen. Und damit den Versuch zu unternehmen, Politik wieder mit Inhalt zu füllen. Wenn dabei keine Partei restlos zu überzeugen vermag? Dann braucht es Entschlusskraft für einen inhaltlichen Kompromiss – mit dem Trost, dass sich eine individualisierte Gesellschaft nicht lückenlos von einer Handvoll Parteien repräsentieren lässt. Wer sich hier zu einer konstruktiven, inhaltlichen Entscheidung durchringt, kann an der Wahlurne den heute schon fast naiv wirkenden demokratischen Gedanken wiederbeleben, gemeinsam für etwas zu sein – und nicht immer nur dagegen. 

Vielleicht färbt diese Energie ja zurück auf die Politik.

Judith Belfkih

Judith Belfkih

ist seit Juli 2024 Digital-Chefin bei profil. War davor in der Chefredaktion der „Wiener Zeitung“