Der Kulturkampf ums Gendern ist entschieden
Neulich war ich Gast einer Veranstaltung mit vielen jungen Menschen. Es ging – wie so oft – um die Zukunft. Einige Vorträge standen auf dem Programm, allesamt von weltoffenen Rednerinnen und Rednern. Sie genderten zu Beginn ihrer Vorträge vielleicht zwei, drei Mal, in allen bekannten Formen, später schon mit etwas Nachlässigkeit, dann wurde vielleicht noch das eine oder andere Mal die weibliche Form verwendet. Es reichte offenbar, zu Beginn zu zeigen: „Seht her, ich bin Teil unseres aufgeschlossenen Milieus.“ Die Verortung eines selbst war damit gemacht, mehr braucht es jetzt auch wieder nicht. Das Publikum weiß ja nun Bescheid.
Es beruhigte mich zu sehen, dass auch andere Menschen das Leben zuweilen so ungenau nehmen wie ich. Denn längst habe ich festgestellt, dass ich selbst meinem an dieser Stelle im profil vor zweieinhalb Jahren veröffentlichten Plädoyer für das gesprochene Binnen-I mit dem mittlerweile bekannt gewordenen Glottisschlag, der kurzen Pause im Wort, nicht nachkommen kann. Die streng konsequente Form, beispielsweise von „Kund-Innenbetreuer-Innen“, kam mir in der „Zeit im Bild“ dann doch zu gewollt vor und daher nie über die Lippen. Zwei Pausen in einem Wort ist mir eine zu viel.
Dabei ging es mir damals in erster Linie gar nicht ums Binnen-I als solches, sondern nur um eine Form, die dort, wo es eben gerade nicht auf eine Differenzierung der Geschlechter ankommt, einen gemeinsamen und einfachen Begriff bietet. Er soll nicht unnötige Aufsplitterungen vornehmen. Eine Gruppe Menschen soll nicht fragmentiert und damit schwächer gemacht werden, wenn es im betreffenden Fall auf Differenzen ihrer Identität nicht ankommt.
Der wohltuende Genderschlendrian dieser Vortragenden ist aber ein Indiz: Der Kulturkampf ums Gendern ist vorbei. In der Rückschau wird man feststellen, dass es unsere gegenwärtige Zeit war, in der der Höhepunkt dieses Kampfes überschritten wurde.
Das zeigt auch mein E-Mail-Posteingang. Zuschriften jener, die das Ringen ums Sichtbarmachen von Frauen als „Genderwahn“ sehen und mir schreiben: „Aber hallo, Herr Leitner, Sie haben heute die Islamistinnen gar nicht genannt!“, die sind selten geworden. Die Luft ist draußen.
Gendern war natürlich nie nur eine Suche nach der richtigen Sprache, sondern immer die Verhandlung von Machtfragen.
Vielleicht war das schon im Bundespräsidentschaftswahlkampf letzten Herbst der Fall. Da hat ein konservativer, zuweilen als Rechtspopulist bezeichneter Kandidat darauf verwiesen, keine Gesetze mit Binnen-I unterschreiben zu wollen, falls er gewählt wird. Seine Begründung damals: Die Bezeichnung der beiden Geschlechter mit dem Binnen-I würde den Eindruck erwecken, dass sich das Gesetz nur an einen eingeschränkten Adressatenkreis wende, also nur an Frauen und Männer. Wo bleiben denn da die „trans“ und „fluid“ und all die anderen Rechtsunterworfenen, fragte er sinngemäß und rein rhetorisch.
Ich bin mir nicht so sicher, ob es sich bei diesem damaligen Kandidaten um jemanden handelt, den wir letztes Wochenende in seinem frivolen Outfit auf der Pride-Parade einfach nur nicht erkannt haben, oder ob er den Kulturkampf ums Binnen-I schon damals nicht mehr kämpfen wollte. Denn: It’s over.
Gendern ist auf ganz unterschiedliche Weise mitten in der Gesellschaft angekommen. Das lässt sich nicht mehr wegkriegen. Wer sich dieser Sprachtechnik bedient, tut das zumeist schon sehr gelassen, wenig belehrend, fast nie kämpfend. Wer einen so gelassen gegenderten Text liest, merkt es kaum mehr. Mittlerweile sind viele von konsequent ungegenderten Texten abgelenkt.
Stimmen für die AfD
Allerdings: Nur weil der Kulturkampf in der Gesellschaft entschieden ist (was auch aktuelle Umfragen zeigen, zu denen wir gleich kommen), heißt das nicht, dass ihn die Politik nicht weiterkämpft. Holzschnittartig ist das zu sehen beim US-Präsidentschaftsbewerber Ron DeSantis und der Ausrufung seines „War on Woke“. Wenn er sagt „Florida is where woke goes to die“, dann geht es natürlich nicht ums Gendern im engeren Sinn. Das gibt das Englische bekanntlich nicht her, nicht so deutlich wie die deutsche Sprache. Aber als Blaupause für Europa reicht es dann doch. Man sucht sich Extrempositionen, auf die die Mehrheit gar nicht pocht, und bekämpft sie umso verbissener.
Der deutsche Oppositionspolitiker Friedrich Merz von der CDU etwa hat den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF ausgerichtet: „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar Hundert Stimmen mehr zur AfD.“
Damit wurde die Position im gesellschaftlichen Ringen um die zeitgemäße Form des Formulierens zu einer Position, die im parteipolitischen Spektrum deutlich zu verorten ist. Politisch übersetzt, auch bei uns.
Auch wenn Politologinnen die Kausalität zwischen Gendern und Stimmenzuwachs für bestimmte Parteien bisher nicht bestätigen konnten, gehen sie davon aus, dass Sympathisanten dieser Partei durch eine solche Behauptung in ihrer Parteipräferenz gestärkt werden.
Gendern war natürlich nie nur eine Suche nach der richtigen Sprache oder deren zeitgeistiger Weiterentwicklung, sondern immer die Verhandlung von Machtfragen. Aber jetzt sind es keine Machtfragen von Frauen und Männern, sondern von politischen Parteien. Das macht die Sache nicht leichter.
Denn aus dieser Verhandlung kann sich Journalismus nicht heraushalten, anders als bei anderen umstrittenen Themen, die einfach nur wiedergegeben und abgebildet werden müssen. Man kann einen Text nur gendern (und sei es nur durch eine Andeutung wie unsere eingangs erwähnten Redner) oder nicht gendern. Beides ist ab jetzt ein Stück weit unfreiwilliges parteipolitisches Positionbeziehen. Denn wie wir schon seit Paul Watzlawick wissen, nicht kommunizieren können wir nicht, schon gar nicht als Publizistinnen und Publizisten.
Vor diesem Hintergrund überraschte mich vor ein paar Wochen ein junger Kollege, der in der morgendlichen Redaktionskonferenz an der Reihe war, den Gestaltern und verantwortlichen Redakteurinnen Feedback zu den „Zeit im Bild“-Sendungen des Vorabends zu geben. Er beklagte dabei den Wildwuchs an Gender-Formen in den unterschiedlichen Sendungen und sogar unter den einzelnen Berichten – und forderte endlich verbindliche, einheitliche Regeln.
Da stieg Unbehagen in mir auf, ist doch die journalistische Freiheit auch die Freiheit, Begrifflichkeiten frei wählen zu können und sich nicht einem – wenn auch aus noch so guter Absicht resultierenden – Sprachregelwerk zu unterwerfen. Wie anderswo der „Krieg“ gegen die Ukraine bezeichnet werden muss, braucht hier nicht angeführt zu werden. Ich habe harmlosere, aber nicht weniger propagandistische Wünsche hierzulande nach Begrifflichkeiten in Erinnerung.
Gut also, dass wir im ORF mit einer ganz neuen „Empfehlung“ den Gender-Wildwuchs jetzt gleichsam legitimiert – aber nicht normiert – haben. Bei uns zielen Verbote für Gender-
Verpflichtungen, wie sie zuweilen angestrebt werden, also ins Leere.
Für 77 Prozent Gleichstellung der Geschlechter wichtig
Diese Empfehlung legitimiert nun auch meinen zuvor schon konzedierten Genderschlendrian. Und sie bildet die Vielfalt der Varianten ab, wie sie in der Sprache derzeit praktiziert wird. Die Empfehlung sieht vor, etwa beide Geschlechtervarianten hintereinander zu verwenden oder eine nichtgeschlechterspezifische Form. Oder einmal das eine und dann das andere Geschlecht – oder überhaupt einmal so und einmal anders. So wie es im Alltag mittlerweile überall vorkommt, in Vorträgen, Reden, Gesprächen, Texten aller Art und Medienberichten.
Das gründet sich übrigens auf eine aktuelle Integral-Umfrage. Sie zeigt, dass für 77 Prozent der Bevölkerung die Gleichstellung der Geschlechter wichtig ist. Fast ebensoviele sprechen sich für die Nennung von zwei Geschlechterformen aus, also für klassisches Gendern – man könnte schon fast sagen, fürs Gendern „alter Schule“. Einzig beim gesprochenen Binnen-I, beim Glottisschlag also, sind es nur 37 Prozent, die das gut finden. In der neuen ORF-Empfehlung wird daher von dessen Verwendung abgeraten. Der österreichische Sprachwissenschafter Martin Stegu meinte dazu vor Kurzem im „Ö1-Journal“, der ORF könnte allerdings ruhig mit einer Utopie vorangehen. Das finde ich gut, und daher haben wir das gemacht. Jetzt soll die sprachliche Wandergruppe aber wieder zusammenkommen. Ich werde also nicht darum kämpfen. Denn der Kulturkampf ums Gendern ist vorüber.