Rechtsextremismus

Thüringen ist überall

Die Botschaft des 1. September 2024 könnte lauten: Rechtsextreme können in Deutschland wieder siegen. Welche Antworten hat die Demokratie?

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profil hebt selten Landtagswahlen aufs Cover, üblicherweise nicht einmal österreichische. Die in Thüringen jedoch, am Sonntag in einer Woche, könnte einen historischen Wendepunkt markieren. Präziser: einen Tiefpunkt. Eine behördlich als rechtsextrem eingestufte Partei, die thüringische Alternative für Deutschland, wird – wenn die Umfragen recht behalten – alle anderen Parteien schlagen und somit stärkste Kraft im Landtag.

Der Rechtsextremismus in Deutschland greift, demokratisch legitimiert, zum ersten Mal seit 1945 in einem Bundesland nach der Macht. Wem das keinen kalten Schauer über den Rücken jagt, der hat im Geschichte-Unterricht Game-Boy gespielt.

Was wir aus den bisherigen Ereignissen des Superwahljahres lernen können.

Wir befinden uns in der zweiten Halbzeit des Superwahljahrs 2024, das mit der düsteren Vorahnung eines Aufstiegs der rechtsrechten (populistischen bis extremen) Parteien begann. Wo stehen wir jetzt – und was können wir aus den bisherigen Ereignissen lernen?

Es kommt nicht immer so schlimm wie befürchtet. Der vorhergesagte Durchmarsch der Rechten bei der EU-Wahl im Juni und bei der Parlamentswahl in Frankreich einen Monat später blieb aus. Was dabei übersehen wurde: Die AfD landete bei der Europa-Wahl in Deutschland auf Platz zwei und in den neuen Bundesländern unangefochten auf Platz eins – ein deutlicher Warnhinweis auf das, was nun kommt. Bei den Parlamentswahlen in Frankreich wiederum konnte nur ein taktisches Bündnis mehrerer Parteien dank des Mehrheitswahlrechts verhindern, dass die weit rechts stehende Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen im Parlament die Mehrheit erringt. Auch da fand die Tatsache wenig Beachtung, dass der RN sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang landesweit die meisten Stimmen bekam – jeweils mehr als zehn Millionen bei rund 30 Millionen abgegebenen Stimmen.

Nein, der Aufstieg der Rechten ist nicht zu Ende, und er bleibt nicht auf regionale Besonderheiten beschränkt. „An der Wahlurne ist der AfD wählende Ostdeutsche ein europäischer Normalfall“, schreibt der Politikwissenschafter Manès Weisskircher in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Zustimmendes Nicken in Österreich, Italien, den Niederlanden …

Wie soll die Demokratie reagieren, wenn Rechtsextreme drauf und dran sind, bei demokratischen Wahlen tatsächlich die (relative) Mehrheit zu erringen?

Erstens macht es immer noch einen großen Unterschied, wie gut die Gegner oder die Gegnerinnen sind. Der Wechsel von Joe Biden zu Kamala Harris hat gezeigt, dass eine frischere, dynamischere Persönlichkeit die paar entscheidenden Prozentpunkte holen kann. So gespalten kann ein Land nicht sein, dass es nicht auf Wechselwähler und Unentschlossene ankäme.

Zweitens kann man erstarkende Rechtsparteien von der Macht fernhalten, solange man sich dabei demokratischer Mittel bedient. Aus einer allfälligen relativen Mehrheit im thüringischen Landtag – oder in einem beliebigen anderen Parlament – folgt nicht zwingend eine AfD-geführte Regierung. Das Prinzip, mit der AfD keinesfalls eine Koalition zu bilden, wird ein wenig schwülstig „Brandmauer“ genannt. Man kann es auch ganz sachlich formulieren: Wenn die eigene politische Überzeugung und der erkennbare Wählerauftrag lauten, mit einer Rechtsaußen-Partei nicht zu kooperieren, gibt es keinen Grund, diesem Wunsch zuwiderzuhandeln. Heikel ist diese Strategie, weil sie die verpönten Rechten noch stärker machen kann. Dabei ist entscheidend, ob das Zweckbündnis zur Verhinderung einer rechtsextremen Regierung einen echten politischen Daseinszweck vermittelt. Das Links-Bündnis in Frankreich, das seit seinem Wahlsieg im Wesentlichen Zerstrittenheit zur Schau stellt, kann als Negativbeispiel dienen.

Drittens erweisen sich gewalttätige Ausschreitungen als kontraproduktiv. AfD-Veranstaltungen durch Randale oder Drohungen zu verhindern, verschafft dieser Partei etwas, was sie sonst niemals kriegen kann: moralische Überlegenheit.

Viertens kann irgendwann auch der Tag kommen, an dem tatsächlich eine AfD-geführte Landesregierung ihr Amt antritt. Dann bleiben immer noch die demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen der Verfassung, der Justiz, der mündigen Öffentlichkeit und der europäischen und internationalen Verträge, die dafür sorgen, dass rechtsextreme Politik an Grenzen stößt.

Schließlich läuft – fünftens – die Einschätzung der Erfolgsaussichten rechtsextremer Politik auf die sehr prinzipielle Frage des eigenen Menschenbildes hinaus. Glauben wir, dass die Mehrheit der Bevölkerung eine Ideologie unterstützt, die den „Euro-Raum verlassen“ will (AfD); das Ziel der „Homogenität in der Gesellschaft“ verfolgt (FPÖ); und die „Remigration“, den ebenso bösartigen wie absichtlich vagen Kampfbegriff der Rechtsextremen gegen Ausländer, in das politische Vokabular zu integrieren versucht (FPÖ, AfD, Identitäre)?

Mögliche Antworten: a) Ja. b) Nein. c) Höchstens eine Legislaturperiode lang. Die Antworten b) und c) machen das Superwahljahr erträglich.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur