Mario Thaler von Ärzte ohne Grenzen Österreich

Türkei-Abkommen: Die bittere Realität

EU-Politiker feiern das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei als Wendepunkt in der sogenannten Flüchtlingskrise, zugleich stellen sie Europa als deren Opfer dar. Eine Tatsachenverdrehung. Die Situation der tatsächlich Betroffenen ist verheerend.

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Als vor einem Jahr die Balkan-Route gesperrt wurde, war dies der Auftakt für eine Reihe von Anti-Flüchtlingsmaßnahmen, wie ich sie persönlich nicht für möglich gehalten hatte. Sie erinnern sich: Anfang März 2016 lösten Grenzschließungen eine Kettenreaktion aus, die letztlich dazu führte, dass zehntausende Flüchtlinge plötzlich in Griechenland oder am Balkan festsaßen. Maßgeblich verantwortlich dafür waren auch österreichische Politiker, die monatelang darauf hingearbeitet hatten, die Flüchtenden zu stoppen.

Wenige Tage später, am 20. März, trat das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei in Kraft, mit dem erklärten Ziel, die Flüchtenden bereits vor den Toren Europas aufzuhalten. Von Anfang an haben wir von Ärzte ohne Grenzen und auch andere Hilfsorganisationen heftig gegen das Abkommen protestiert, das genau genommen einen „Handel“ mit Menschen vorsieht: Wird ein Flüchtling aus Griechenland in die Türkei abgeschoben, nimmt die EU dafür einen syrischen Flüchtling auf. Soweit die Theorie der Politik.

Ein Jahr später muss man feststellen, dass dieser menschenverachtende Mechanismus nicht funktioniert – die EU hat von den vereinbarten 72.000 syrischen Flüchtlingen gerade einmal 3.800 aus der Türkei aufgenommen. Dennoch werden Politiker nicht müde, das Abkommen als Erfolg zu verkaufen: Der Türkei-Deal sei ein positiver Wendepunkt in der sogenannten „Flüchtlingskrise“.

Es ist an der Zeit, diesem Narrativ etwas entgegenzusetzen. Es handelt sich um eine falsche Darstellung – in Wirklichkeit handelt es sich um einen Tiefpunkt der EU-Flüchtlingspolitik.

Bei dem Deal ging es im Grunde niemals um das Wohlergehen von Schutzsuchenden

Es mag stimmen, dass weniger Flüchtende über das östliche Mittelmeer nach Griechenland kommen. Aber zu welchem Preis? Die Realität ist bitter: Bei dem Deal ging es im Grunde niemals um das Wohlergehen von Schutzsuchenden. Folglich sind Flüchtlinge heute stärker gefährdet als zuvor. Da keine Möglichkeiten eingerichtet wurden, legal in Europa um Schutz anzusuchen, werden verzweifelte Menschen noch stärker in die Hände von Schleppern gedrängt. Kann dies das Ziel von Politikern sein, die sich dem Kampf gegen Schlepper verschrieben haben?

Besonders hoch ist der Preis, den zehntausende Männer, Frauen und Kinder zahlen, die seit einem Jahr unter unwürdigen Bedingungen festsitzen: In Griechenland, das trotz vollmundiger EU-Versprechen nach wie vor nicht die notwendige Unterstützung bei der humanitären Versorgung und Abwicklung der Asylverfahren erhält; und in den Balkanländern – allen voran in Serbien, wo Tausende in informellen Unterkünften leben und nicht wissen, wie es weitergeht.

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen erleben täglich „live“ mit, wie sich die unwürdigen Lebensbedingungen und die Perspektivlosigkeit auf die Gesundheit der Betroffenen auswirken. Wir haben soeben einen Bericht veröffentlicht, in dem wir die Lage unserer Patienten auf den griechischen Inseln dokumentieren – wo auch ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Abkommens tausende Menschen festsitzen. Das Ergebnis ist erschreckend: Die Zahl der Asylsuchenden mit psychischen Beschwerden ist dort stark gestiegen. Unsere Teams berichten von einem signifikanten Anstieg der Patienten, die wegen Angstsymptomen und Depressionen behandelt werden müssen. Wir treffen mehr Menschen mit schweren Traumata, erleben mehr Selbstverletzungen und Suizidversuche.

Mit dem Türkei-Deal hat die EU de facto die Genfer Flüchtlingskonvention ausgehebelt

Lassen Sie es mich deutlich sagen: Dies sind direkte Folgen einer von den EU-Staaten gewollten Abschreckungspolitik. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wir sprechen von zehntausenden Betroffenen. Menschen, die zuhause und auf ihrer Flucht ohnehin oft Schreckliches erlebt haben. Auf die unmenschliche Aufnahme in Europa waren sie jedoch nicht vorbereitet.

Allen Zusicherungen zum Trotz, das Recht auf Asyl zu wahren: Mit dem Türkei-Deal hat die EU de facto die Genfer Flüchtlingskonvention ausgehebelt. Schlimmer noch: Menschen, die Schutz suchen, wurden auf eine politische Verhandlungsmasse reduziert – das zeigt sich aktuell in der Auseinandersetzung mit der Türkei, in der das Flüchtlingsabkommen als Trumpf eingesetzt wird. Inzwischen geht Europa sogar noch einen Schritt weiter und bereitet ein Abkommen nach Vorbild des Türkei-Deals mit dem Bürgerkriegsland Libyen vor – wo Ärzte ohne Grenzen sieht, wie Flüchtende systematisch eingesperrt, misshandelt und entrechtet werden. Wir teilen diese Informationen und unterrichten die Entscheidungsträger darüber, was wir in den Lagern erleben – dennoch wird Libyen weiter als Partner gehandelt.

Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Denn das Signal, das Europa derzeit an die Welt aussendet, ist verheerend: Man kann sich von seiner Verantwortung für Schutzsuchende freikaufen. Wenn andere Länder dem EU-Beispiel folgen, können Menschen gar nicht mehr fliehen, sondern sitzen in den Konfliktgebieten fest.

Es ist deshalb höchste Zeit, dass wir die Flüchtlingsfrage wieder von einer menschlicheren Seite betrachten, statt durch die Brille von Politikern und Sicherheitsexperten. Wir müssen dafür sorgen, dass Schutzsuchende würdevoll behandelt und nach humanitären Kriterien versorgt werden; dann muss ihnen ein ordentliches Asylverfahren ermöglicht werden. Dazu müssen endlich legale Möglichkeiten geschaffen werden, um in Europa um Schutz anzusuchen. EU-Staaten dürfen ihre Verantwortung nicht länger abschieben.

Mario Thaler ist Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Österreich.