Robert Treichler: Über Gewicht

Die westliche Welt befreit sich vom Schlankheitswahn. Leider ist Fettleibigkeit das neue Schwarz.

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Auf dem Wühltisch der Schönheitsideale wird gerade das Schlanksein verramscht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Bevölkerung der gesamten westlichen Welt fast ausnahmslos dasselbe Ziel vor Augen: dünn zu sein. Kriterien dafür gab es bis zuletzt immer wieder neue. Frauen sollten einen „Thigh Gap“ vorzeigen können, also eine möglichst breite Lücke zwischen den Oberschenkeln, und eine „Bikini Bridge“: Das Badehöschen sollte zwischen Hüftknochen und dem – extrem flachen – Bauch streckenweise nicht aufliegen. Männer arbeiteten derweil an einer deutlich sichtbaren Bauchmuskulatur frei von Fettgewebe, dem „Sixpack“.

Der Versuch, die Körperformen gazellenartiger Menschen aus Werbung und Pop-Industrie am eigenen Leib zu imitieren, war meist erwartbar aussichtslos und entsprechend frustrierend. Und so hat eine Gegenbewegung eingesetzt, die der Obsession, gertenschlank sein zu wollen, ein Ende bereiten soll. Plus-Size-Models zeigen, dass Kleider auch in Größe Large gut aussehen können; Frauenzeitschriften wie „Brigitte“ titeln: „Wie ich lernte, dick und glücklich zu sein“. Das hat etwas Emanzipatorisches, denn menschliche Körper werden nun einmal nicht alle in X-Small oder Slim-Fit ausgeliefert.

Allerdings schlägt die Euphorie darüber, mit dem eigenen Körper als schön gelten zu dürfen – egal, wie schwer er ist –, neuerlich in eine ideologische Zuspitzung um, diesmal in die Gegenrichtung.

„Ich bin fett, aber ich bin schön!“, lautet der Wahlspruch des gefeierten Plus-Size-Models Tess Holliday, das 117 Kilo wiegt. „Ja, du kannst fett und fit sein!“, verspricht Louise Green, eine prominente und selbst übergewichtige Fitnesstrainerin. „Jedes dicke Mädchen in Leggings ist eine Demo für mehr Vielfalt“, propagierte vergangene Woche die „Spiegel online“-Kommentatorin Margarete Stokowski in einem „Manifest“.

Übergewicht und Fettleibigkeit sind keine stilistischen Alternativen zum Normalgewicht, sondern schlicht Risikofaktoren

Die Aufforderung, fett zu bleiben und sich dabei schön zu fühlen, ist ungefähr so emanzipatorisch, wie jemandem zu raten, ungeschützten Sex zu haben und sich dabei toll vorzukommen. Übergewicht und Fettleibigkeit sind keine stilistischen Alternativen zum Normalgewicht, sondern schlicht Risikofaktoren und deshalb kein Betätigungsfeld für Style-Kritiker, sondern für Ärzte.

Sie in eine Reihe mit Köperbehaarung, Brustwarzen und sonstigen körperlichen Details zu stellen, wie Stokowski das tut, ist irreführend. Wer will, soll Achselhaare sprießen lassen, Nippel offen tragen und sonstige Zwänge abstreifen. Ein Body-Mass-Index jenseits der Normalwerte ist jedoch medizinisch bedenklich.

Die Bewohner der OECD-Staaten entwickeln sich entgegen des kollektiven Strebens nach der Mager-Optik rasant in Richtung oberste Gewichtsklasse: Fettleibigkeit wird allmählich zu einer Plage biblischen Ausmaßes. 38 Prozent der Bevölkerung der USA leiden daran, mehr als 30 Prozent sind es in Ungarn und Mexiko, über 23 Prozent in Deutschland. Österreich liegt mit 14,7 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt, allerdings beruht dieser Wert im Gegensatz zum deutschen und amerikanischen auf Selbsteinschätzung. Zudem steigt auch bei uns der Anteil der Adipösen.

Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass man dicke Menschen nicht kränken soll, aber es ist falsch, ihnen zu suggerieren, ihr Übergewicht sei okay

Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass man dicke Menschen nicht kränken soll, aber es ist falsch, ihnen zu suggerieren, ihr Übergewicht sei okay. Ebenso wie man Rauchern klarmacht, dass sie ihre Gesundheit ruinieren, und ebenso wie man Leute, die stundenlang in der Sonne liegen, vor Hautkrebs warnt, muss man Fettleibigen sagen, dass sie ein Problem haben, anstatt ihnen zu schmeicheln.

Die Frage, ob Dicke schön sind oder nicht, ist im besten Fall sekundär. Sie laufen Gefahr, Diabetes Typ 2 (nicht insulinabhängig), einen Schlaganfall, Gelenkschäden und weitere gesundheitliche Probleme zu bekommen. Kann ein Dicker mit Diabetes schön sein? Sicher, ebenso wie ein Raucher mit Arteriosklerose. Manchmal sind Warnungen aber hilfreicher als Komplimente.

Eine kürzlich beim Europäischen Adipositas-Kongress in Porto vorgestellte Studie räumt mit dem Mythos auf, fettleibige Personen könnten ebenso gesund sein wie normalgewichtige. Auch wenn sie für ihre Verhältnisse fit seien, bestehe bei ihnen ein erhöhtes Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko, so die Studie.

Die Auswirkungen von Fettleibigkeit auf die Gesundheit sind ziemlich teuer. Die Schätzungen im Fall der USA reichen bis zu 200 Milliarden Euro jährlich. Hinter diesem Betrag stehen Krankheiten und viel Leid.

Unsere Gesellschaft befördert falsche Lebensstile

Die stetig steigenden Zahlen der Betroffenen weisen auf ein grundsätzliches Problem hin: Unsere Gesellschaft befördert falsche Lebensstile: falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, Stress, Einsamkeit.

Die Fettleibigen sollten in eigenem Interesse ihre Gewohnheiten ändern, und die Gesellschaft – und der Staat – müssen ihnen dabei helfen. Falsch geplante Städte, die verhindern, dass Menschen zu Fuß gehen und Rad fahren, machen fett. Ein fehlendes Angebot an zuckerarmen Getränken und Speisen für Kinder macht fett. Generelle Geringschätzung von körperlicher Betätigung macht fett. Die Einführung der „täglichen Turnstunde“ an Schulen zur Utopie zu erklären, macht fett.

Und fett mit schön gleichzusetzen, macht schön fett.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur