Ukraine: Die Wehrhaften außer Dienst
Die Verteidiger des Abendlandes sind umtriebige, wachsame und entschlossene Leute. Vor ein paar Jahren versammelten sie sich zum Beispiel anlässlich einer Veranstaltung der Freiheitlichen Akademie mit dem eingängigen Titel „12. September 1683 – Abendland beschützen, damals wie heute“ im Wiener Palais Ferstl und gedachten der Geschichte der Türkenbelagerung, als die Osmanen vor den Toren Wiens zurückgeschlagen wurden. Der damalige FPÖ-Chef Heinz Christian Strache sprach tief bewegt den Satz: „Unser Abendland zu schützen, war nicht nur ein Auftrag in der Vergangenheit, sondern ist auch ein Auftrag für die Zukunft.“ Die Alternative für Deutschland (AfD), Fraktionskollegin der FPÖ im EU-Parlament, hat die Erhaltung der abendländischen Kultur sogar in der Präambel ihres Grundsatzprogramms festgeschrieben.
Fragt sich nur: Wo sind sie jetzt?
Die Ukraine ist Teil des Abendlandes. Sie wurde von russischen Streitkräften überfallen, ihr Territorium besetzt. In den vergangenen Tagen hat die ukrainische Armee damit begonnen, ihr Land zurückzuerobern und die Bevölkerung, die dort lebt, zu befreien. Es ist ungewiss, ob sie dabei Erfolg haben wird. Sollte es ihr gelingen, dann verdankt sie es zu einem großen Teil der militärischen Unterstützung durch westliche Verbündete. Diese Hilfe gäbe es nicht, wenn Parteien wie die FPÖ, die AfD, und andere Rechtsparteien das Sagen hätten. Die lautstarken Verteidiger des Abendlandes, die in diesem Zusammenhang gern auch die Vokabel „wehrhaft“ gebrauchen, tun alles, um die Waffenlieferungen an die Ukraine zu hintertreiben. FPÖ, AfD, die rechtspopulistische niederländische Partei Forum für Demokratie, Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich, die italienische Lega – sie alle bilden de facto eine Kapitulations-Koalition, notdürftig behübscht mit irrealen Friedensideen.
Das ist deshalb von so großer Bedeutung, weil einige von ihnen in Umfragen derzeit sehr gute Werte aufweisen. Dazu kommt, dass auch in den USA im Feld der republikanischen Vorwahlkandidaten die Unterstützung der Ukraine keine Selbstverständlichkeit ist. Donald Trump und auch sein bislang gefährlichster Konkurrent Ron DeSantis haben die Waffenlieferungen an die Ukraine in der Vergangenheit kritisiert.
Die Verteidiger des Abendlandes sind immer dann voll Inbrunst zur Stelle, wenn es nichts zu verteidigen gibt. Etwa, wenn das EU-Parlament eine Entschließung zu den Grundrechten von Menschen afrikanischer Abstimmung absegnet; wenn irgendwo eine Moschee ein Minarett bekommen soll; oder wenn sie hinter einem Anti-Diskriminierungsgesetz eine „linksglobalistische Agenda“ wittern. Wenn aber fremde Panzer durchs Abendland rollen, verflüchtigt sich die politische Courage.
Die europäischen Rechtspopulisten sehen in Russlands Autokraten Wladimir Putin einen Verbündeten und können sich nicht von dieser Vorstellung lösen. Der Niederländer Geert Wilders bezeichnete Putin einmal als „wahren Patrioten“, die FPÖ schloss mit dessen Partei „Einiges Russland“ einen Freundschaftsvertrag. Putin gilt den Rechten als Verbündeter im Kampf gegen LGBT-Rechte, gegen den Islam, gegen Immigration – und für ein christliches Europa bis zum Ural. In ihren Augen verkörpert er das Abendland, so wie sie es sich wünschen. Sie sehen offenbar Immigration oder das, was sie als „Gender-Irrsinn“ bezeichnen, als größere Bedrohung an als russischen Raketenbeschuss.
Putin gilt den Rechten als Verbündeter im Kampf gegen LGBT-Rechte, gegen den Islam, gegen Immigration - und für ein christliches Europa bis zum Ural.
Ihnen ist jeder Einwand Recht, um die Unterstützung der Ukraine in Frage zu stellen. Zum Beispiel das egoistische Argument im Hinblick auf Energiepreise und Inflation: „Ich habe Sympathie für die Ukrainer, aber ich vertrete die niederländischen Bürger, die mich gewählt haben.“ (Geert Wilders). Oder auch das unverhohlen zynische Argument von FPÖ-Chef Herbert Kickl (im profil-Interview ab Seite 16): „Zu einem Konflikt gehören immer zwei.“
Fairerweise muss man einschränken, dass nicht alle Rechtspopulisten so agieren. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni etwa hat rasch verstanden, dass auch ein christlicher, traditionalistischer Kriegsverbrecher ein Kriegsverbrecher ist und trägt trotz aller Querschüsse innerhalb ihrer Koalition die Sanktionen mit.
Und noch eine Anmerkung: Auch auf der Linken tummeln sich einige, denen ideologische Neigungen (gegenüber Russland) und Abneigungen (gegenüber der NATO) wichtiger sind als die Verteidigung eines souveränen Staates. Die griechische Partei Syriza, die Linke in Deutschland, Jean-Luc Mélenchons „Unbeugsames Frankreich“…
Ohne Kampfpanzer aus dem Westen und anderes schweres Gerät ist eine Rückeroberung der besetzten Gebiete in der Ostukraine undenkbar. Bisher hält die Allianz, von der Ampelkoalition in Deutschland bis zur konservativen Regierung Großbritanniens, von der Demokraten-Regierung von Joe Biden bis zur Rechts-Koalition von Meloni.
Verloren ist das Abendland erst, wenn es sich auf die verlässt, die sich als seine Verteidiger aufspielen.