Leitartikel

Und wenn wir sie einfach im Stich lassen?

Rechte und linke Kräfte wollen die Unterstützung der Ukraine beenden. Werden sie Erfolg haben?

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Ein gefährlicher Countdown beginnt, an dessen Ende eine historische Entscheidung fallen wird: Bleibt der Westen politisch und militärisch an der Seite der Ukraine oder lässt er den von Russland überfallenen Staat im Stich? In den eineinhalb Jahren seit Kriegsbeginn schien die Einheit und Einigkeit des Westens nicht in Gefahr, im Gegenteil. Der Mitte-links-Präsident der USA, Joe Biden, die konservative Regierung in Großbritannien, die liberale in Frankreich, auch die weit rechts stehende in Italien und sogar die Regierung des neutralen Österreich – sie alle standen unverbrüchlich Kyiv (Kiew) bei. Das tun sie auch jetzt – noch. Doch die Kräfte, die daran arbeiten, dass die Unterstützung der Ukraine ein Ende nimmt, werden stärker.

Beginnen wir mit der Aufzählung im eigenen Land. Die FPÖ agitiert seit Kriegsbeginn dagegen, dass Österreich trotz militärischer Neutralität Teil des westlichen Bündnisses ist. Parteiobmann Herbert Kickl wirft der Regierung vor, der „Message Control des Pentagon“ zu folgen, und kritisiert die Europäische Union, weil sie – mit österreichischer Duldung – Waffenlieferungen an die Ukraine finanziert. Neu ist, dass die FPÖ ein Jahr vor der Nationalratswahl in Umfragen stabil auf Platz eins liegt und ihre Position die des offiziellen Österreich werden könnte.

Der Westen wäre kaputt, seine Sicherheitsgarantien, seine Versprechen, seine Beistandserklärungen nichts mehr wert.

Auch in unserem Nachbarland Slowakei könnte eine Partei am Sonntag in einer Woche die Parlamentswahl gewinnen, die der Unterstützung der Ukraine ein Ende setzen will. Bloß ist es in diesem Fall keine rechte Partei, sondern die sozialdemokratische Smer. Im profil-Interview auf Seite 44 sagt Katarína Roth Nevedalova, EU-Abgeordnete von Smer, „die Slowakei kann der Ukraine nichts mehr geben“, und behauptet, ihr Land habe bereits „alles an Militärmaterial geschickt, was wir haben“. Die EU solle sich ihrer Meinung nach „aus diesem Konflikt heraushalten“.

Dieselbe Meinung vertritt die französische Rechts-Politikerin Marine Le Pen, die ebenfalls in allen Umfragen auf Platz eins liegt. Und mit den Genannten stimmen viele weitere Parteien links und rechts überein, von Jean-Luc Mélenchons „Unbeugsames Frankreich“ bis zur AfD von Alice Weidel.

Bisher musste sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán als einziger Widersacher innerhalb der EU wohl oder übel damit begnügen, symbolisch Widerstand zu leisten und etwa den Transport von Waffen in die Ukraine über ungarisches Territorium zu untersagen.

Doch jetzt scheint der Tag nicht fern, an dem der Rat der Staats- und Regierungschefs der EU in der Frage der Unterstützung der Ukraine nicht mehr geeint ist.

Eine bange Frage drängt sich auf: Hält das westliche Bündnis?

Es gibt jemanden, der alles darauf gesetzt hat, dass es zerfallen wird – dass die Waffenlieferungen versiegen; dass erst verdeckt und bald ganz offen die Ukraine genötigt wird, aus einer Position der Schwäche mit Russland zu verhandeln – und der sein Schicksal damit verknüpft hat: Wladimir Putin.

Der Kriegsherr im Kreml hat allen Grund, atmosphärische Verschiebungen und Wahlen in Europa genau zu beobachten, und derzeit dürften ihn die Entwicklungen wohl zuversichtlich stimmen. Bereits die Wahlen zum EU-Parlament im Juni des kommenden Jahres könnten die Anti-Ukraine-Front stärken. Der entscheidende – möglicherweise kriegsentscheidende – Tag wird jedoch der 5. November 2024 sein, der Tag der US-Präsidentschaftswahl. Siegt Donald Trump, der versprochen hat, den Krieg „innerhalb von 24 Stunden“ zu beenden, dann stünde die Ukraine plötzlich schutzlos da, ausgeliefert den spontanen Ideen, die Trump bei einer Unterredung mit Putin durch den Kopf schießen.

Was würde eine solche Wende bedeuten?

Einen ungeheuren Triumph für Putin, der sich zu Recht damit schmücken könnte, der gesamte Westen sei vor ihm in die Knie gegangen. Er, der mit dem Angriffskrieg internationales Recht gebrochen hat, stünde als Sieger da.

Der Westen wäre kaputt, seine Sicherheitsgarantien, seine Versprechen, seine Beistandserklärungen nichts mehr wert. Der Gedanke an ein solches Szenario ist ebenso bestürzend, wie er irreal erscheint. Kann sich das stärkste Bündnis der Welt – die NATO, die G7 – wirklich einfach so aufgeben?

Das mutet nur dann so unvorstellbar an, wenn man es als plötzlich getroffene Entscheidung darstellt. Tatsächlich wird der Konsens, der Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung beizustehen, langsam und fortschreitend brüchig. Falsche Friedenshoffnungen, Ärger über Inflation und tief sitzender Antiamerikanismus treffen auf politischen Opportunismus und zynische Verantwortungslosigkeit.

Was kann man dem entgegensetzen? Noch haben die westlichen Verbündeten die Möglichkeit zu handeln und nicht nur der Welt, sondern auch den Kritikern in den eigenen Ländern zu zeigen, dass ihr Engagement ein Land und ein Volk befreien kann. Dass die USA die ukrainischen Streitkräfte nun doch mit Boden-Boden-Raketen (Atacms) ausstatten wollen, ist eine gute Nachricht.

Erfolgsmeldungen aus der Ukraine wären die beste Erwiderung gegen die wachsende Neigung der Gewissenlosen zur Selbstaufgabe des Westens.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur