Verlässlichkeit – eine Superkraft
Wir leben in interessanten Zeiten – und die Chinesen wissen schon, warum sie diese Phrase als Fluch verstehen. Alles ändert sich, verschiebt sich, auf nichts kann man sich verlassen, und alles scheint sonderbar fremd. Als Ergebnis hat man es oft mit Leuten zu tun, die nicht meinen, was sie sagen, und die auch nicht wissen, was sie wollen.
Das klingt nach der Klage, die wir von Opa und Oma kennen, und das ist auch kein Zufall. Auch sie schüttelten angesichts der Veränderungen rund um sie herum den Kopf. Oft über Sachen, die wir wiederum gar nicht verstanden. Wie kann man sich denn nur über eine neue Musikrichtung wundern oder sogar ärgern, oder über lange Haare und kurze Röcke? Und muss man sich immer noch so anziehen wie damals, als Oma noch jung war? Braucht es all die Förmlichkeiten? Und warum sagen alle Du zueinander?
Wir haben uns gewundert, dass es all die kleinen Dinge sind, die die Alten irritierten, lauter Angelegenheiten, die eigentlich nicht so schwer wiegen, oder? Keine große Weltpolitik, kein Krieg irgendwo, keine Revolution und auch keine (scheinbar) weltverändernde Technologie. Sondern einfache Sachen: Was zieht man an? Was hört man für Musik? Und was um Himmels willen ist ein Döner?
Nun ist es so, dass nicht nur Menschen alt werden, auch für Gesellschaften und Kulturen gilt das, und zwar in dem, was sie für „normal“ halten. Sie werden unmerklich älter, bis sie die Welt nicht mehr verstehen. Dann gehen die verschiedenen Teile der Gesellschaft ins Seniorenheim, oder, wie man heute sagt, in ihre Milieus, Bubbles und Meinungsgemeinschaften, von denen es immer mehr gibt. In diesen geschlossenen Anstalten kann man sich die Welt noch ein Weilchen so erklären, wie sie schon längst nicht mehr ist. Und die neue Welt? Sie ist noch kindlich naiv, pubertierend selbstgerecht, großmäulig statt geistig großjährig. So sind alle irgendwie auf dem Holzweg und empören sich jeden Tag noch ein bisschen mehr darüber.
Was eint Alte und Kinder? Ihre Sehnsucht nach Verlässlichkeit. Wer schwächer ist, physisch, materiell, der spürt Veränderungen viel stärker als die, die sich noch leichter selber aus der Patsche helfen können. Anders gedacht: Alte und Kinder stehen der Veränderung, der Transformation, viel näher als die, die den ganzen Tag mit mehr oder weniger viel Elan ihre Routinen abspulen, damit sie ihre Miete zahlen können.
Von den vielen Sprüchen, die in Zeiten der Veränderung gerne zitiert werden, ist der dem griechischen Denker Heraklit zugeschriebene Satz, dass die „einzige Konstante die Veränderung“ sei, der dümmste. Denn er wird nicht so gelesen, wie ihn die alten Griechen dachten, dass sich – ja! – die Welt ständig verändert, und dass wir – ja! – gerade deshalb so darauf achten müssen, dass sich darin das Gute und uns Vertraute erhält. Tradition, Verlässlichkeit, Gewohnheit und Fortschritt, Experiment und Wagnis sind keine Gegensätze, sie sind Geschwister, Familienmitglieder. Und wie in allen Familien gibt es da auch mal Zoff. Aber das ändert nichts daran, dass man einander braucht.
Verlässlichkeit ist ein Wort, das in der großen Transformation dieser Tage offiziell keine Rolle spielt. Das Wort passt nicht zum dynamischen Macher-Denglisch, mit dem sich Leute umgeben, die, egal was passiert, weich genug fallen, dass es nicht wehtut. Wichtig ist es aber. Denn alles scheitert, was an Veränderung in Wirtschaft, Gesellschaft und deren zahlreichen Großbaustellen nötig ist, wenn es keine Verlässlichkeit gibt. Hört auf die Jungen. Hört auf die Alten.
Das ist der blinde Fleck aller, die sich vor dem Morgen fürchten, und derer, die ständig von Utopien reden. Verlässlichkeit ist die harte Währung in der Transformation. Redet miteinander. Seid zuverlässig im Geschäft und im Privaten. Haltet eure Zusagen und Versprechungen. Pflegt das gute Alte und fördert das gute Neue. Und hört auf die, die der Veränderung näher stehen. Denn da kommt ihr her, und da geht ihr hin.