Leitartikel

„Verrückte“ Frauen und die Macht

Der schrille Wahlkampf in den USA und die neue EU-Kommission werden auch zum Gradmesser für Gleichberechtigung.

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Männliche Kandidaten für die prestigeträchtigen und einflussreichen Ämter fanden sich flott. Frankreich entsendet Thierry Breton nach Brüssel, bisher Binnenmarktkommissar. Irland Finanzminister Michael McGrath. Aus Lettland kommt Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis, aus Tschechien Industrieminister Jozef Síkela. Luxemburg, Italien, Slowenien, Ungarn, die Slowakei komplettierten mit ihren Vorschlägen die Herrenriege. Österreich folgte und schickte Finanzminister Magnus Brunner ins Rennen.

Keine Frage: Die meisten dieser Kommissare in spe verfügen über Regierungserfahrung, fachliche Qualifikation und politischen Instinkt.

Bloß: In der Gesamtschau fällt die Zwischenbilanz des ehrgeizigen Projekts „jeder EU-Staat nominiert eine Frau und einen Mann“ ziemlich retro und dürftig aus. Das Gros der Regierungen, Österreich inklusive, ignorierten den dringenden Wunsch nach Geschlechterbalance. Das Resultat: Bisher stehen elf Männer auf der Liste für die nächste EU-Kommission. Und fünf Frauen. Von „Balance“ kann damit selbst bei großzügigster Auslegung keine Rede sein. Sondern von gehöriger Schieflage zugunsten des Krawatten-Sektors.

Und nicht wenige reiben sich bass erstaunt die Augen und fragen sich: Echt jetzt? 2024? In Europa, wo mit dem erfahrenen Polit-Profi Ursula von der Leyen eine Frau die EU-Kommission anführt und die profilierte estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas die Außenpolitik prägen wird? Wo nach einer deutschen Kanzlerin, drei britischen Regierungschefinnen und mit einer italienischen Premierministerin Frauen in der Spitzenpolitik als Selbstverständlichkeit gelten?

Es sind lehrreiche Polit-Tage. Vor allem für jene, die sich in der Überzeugung wiegten, dass man über Halbe-Halbe nicht mehr diskutieren muss – weil es ohnehin längst erreicht ist. Das hat sich spätestens jetzt als Illusion erwiesen. In Europa, wo Mitgliedstaaten zwar in der Theorie flammend für Gleichberechtigung eintreten, in der Praxis aber für begehrte Führungsfunktionen prompt in überwunden geglaubte Muster zurückfallen und serienweise Männer nominieren. Und in den USA, wo Polit-Diskussionen überzeichneter und schriller passieren und die Präsidentenwahl auch als Geschlechterkrieg abläuft.

Der vulgäre Draufdrescher Donald Trump setzt als bevorzugtes Werkzeug die brutale Beleidigung ein, gegen Frauen pöbelt er besonders untergriffig. Höhnt „grab ’em by the pussy“, motzt über „Blut aus ihren Augen oder sonst wo“ und protzt über sich als „jemand mit Eiern“. Trump ist der erste Präsidentschaftskandidat, der zivilrechtlich wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt ist – was ihn mitnichten davon abhält, gegen Konkurrentin Kamala Harris derb auszuteilen. „Dumm wie ein Stein“, sei sie, ihr Lachen zu laut und schlicht „verrückt“, ihr ethnischer Hintergrund zweifelhaft, und so weiter, typisch Dreckschleuder Trump eben. Sein Möchtegern-Vize, Populismus-Verstärker und Anti-Abtreibungs-Hardliner J. D. Vance steuert noch Häme gegen die „kinderlose Katzenlady“ bei.

Politikerinnen werden überhaupt nach speziellen Kriterien beurteilt, ihnen wird schnell ein „zu“ attestiert.

Kurz: Die Wahl im November ist auch eine Entscheidung darüber, ob nach 46 US-Präsidenten die erste Frau gekürt wird – oder Uralt-Macho Trump. Ginge es nur um Qualifikation, wäre es ein eindeutiges Rennen zwischen Ex-Staatsanwältin und Verurteiltem, zwischen Vernunft und Verschwörungstheoretiker, zwischen Vielfalt und Einfalt. Doch ausschließlich um die fachliche Eignung dreht sich eine Wahl selten. Politikerinnen werden überhaupt nach speziellen Kriterien beurteilt, ihnen wird schnell ein „zu“ attestiert – zu laut oder zu leise, lächelt zu wenig oder lacht zu laut, ist zu kinderlos oder zu sehr Rabenmutter. Lauter Zuschreibungen, mit denen sich Männer deutlich seltener herumplagen müssen.

Nichts hat sich in den vergangenen Jahrzehnten derart dramatisch geändert wie die Geschlechterverhältnisse, die #MeToo-Bewegung beschleunigt den Wandel zusätzlich – und dennoch bleibt das Klischee, wie erfolgreiche Politik auszusehen hat, von Testosteron-Schlachtrössern geprägt. Selbst die lange mächtigste Frau der Welt, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, wurde mit Kategorisierungen wie „Mädchen“ oder „Mutti“ verniedlicht. Weil Frauen, obwohl von Argentinien bis Togo schon die gefühlt halbe Welt von Frauen regiert wurde, immer noch den Ausnahmefall darstellen.

Am Beispiel Österreich in Zahlen: 0 Mal wurde eine Frau als Bundeskanzlerin oder Bundespräsidentin gewählt. Nicht mehr als 3 Landeshauptfrauen gab es bisher, derzeit sitzt 1 Landeshauptfrau 8 Landeshauptmännern gegenüber. Und die Männerquote an der Spitze von Wirtschaftskammer und Gewerkschaftsbund beträgt seit Beginn der Republik überhaupt 100 Prozent. Also durchaus Luft nach oben in der Geschlechter-Balance.

Kamala Harris surft derzeit auf einer Welle der Euphorie. Spenden und Sympathien sprudeln. Möglich wurde ihre Kandidatur für das Weiße Haus aber überhaupt erst in der Krisensituation, dass Amtsinhaber Joe Biden aussichtslos durch seinen Wahlkampf stolperte und stotterte. Sonst wäre die Wahl eine Männerpartie geworden. Jetzt wird sie auch zum spannenden Gradmesser dafür, wie es 2024 um Gleichberechtigung bestellt ist.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin