Verstehen Sie Putin?
Als vergangene Woche auf Twitter die Frage gestellt wird, wie Russland für seine Kriegsverbrechen in der Ukraine zur Verantwortung gezogen werden kann, platzt User Franz S. der Kragen. Bestraft werden müssten beide Seiten, schreibt er, immerhin hätten auch die USA, die NATO, die EU und die Ukraine selbst den Krieg zu verantworten.
Mit seinen Tweets wiederholt Franz S. die Propaganda des Kremls. Die Strategie Moskaus ist seit Jahren dieselbe: Fakten werden schlicht geleugnet – oder in ihr Gegenteil verkehrt. Die tödlichen Angriffe auf das Theater und die Geburtsklinik in Mariupol – Bombardements durch die ukrainische Armee. Der Angriffskrieg – eine „Spezialoperation“, um einen Genozid an ethnischen Russen im Donbas zu verhindern. Die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland – eine notwendige „Evakuierung“ von Schutzbefohlenen in Gefahr.
Die Kampagne „EU vs Disinfo“ des Europäischen Auswärtigen Dienstes hat bereits vor Jahren damit begonnen, die wichtigsten Mythen Russlands über die Annexion der Krim, die Besetzung des Donbas und den Krieg in der Ukraine zusammenzufassen und sie Punkt für Punkt zu zerpflücken. Die angeblichen Angriffe auf Russischsprachige und die Behauptung, Russland verteidige in der Ukraine lediglich seine eigenen Sicherheitsinteressen, gehören schon lange zum Kernprogramm des russischen Informationskrieges.
Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 hat der Kreml viel Zeit und Geld in Propaganda gesteckt. Verbreitet wird sie nicht nur in Russland, sondern auch in den Nachbarländern und im Westen, mit dem Ziel, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das hat sich offenbar gelohnt. In Österreich spielen Politiker unterschiedlicher Parteien, „Experten“ und zahlreiche Bürgerinnen und Bürger im Informationskrieg Russlands die Rolle der nützlichen Idioten.
Das betrifft nicht nur Rechtsaußen. Zuletzt rechtfertigte etwa die SPÖ-Abgeordnete Petra Tanzler ihr Fernbleiben von der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im österreichischen Parlament damit, dass dieser als „kriegsführender Staatschef, der Kriegspropaganda betreibt, die Gewerkschaften in seinem Land bekämpft und angeblich Streu- und Phosphatbomben (sic!) auf Unschuldige abwerfen lässt“, im Parlament eines neutralen Landes „nichts zu suchen“ habe.
Mit ihrer Erklärung hat Tanzler dem Kreml gleich mehrere Gefallen getan. Über den Angriff Russlands verliert sie kein Wort; und die alte Behauptung, die Ukraine setze Phosphorbomben ein (was wohl gemeint ist), stammt aus der Feder Moskaus.
Unvergessen ist der Knicks der damaligen Außenministerin und nunmehrigen Kolumnistin kremltreuer Medien vor ihrem Hochzeitsgast Wladimir Putin. In Erinnerung bleibt auch der Empfang Putins in Wien wenige Monate nach der Annexion der Krim. Der rote Teppich und die stehenden Ovationen für Putin in der Wirtschaftskammer sorgten auch damals für Kritik. Politiker wie Ex-Bundespräsident Heinz Fischer behaupten bis heute, man habe nicht wissen können, wie Putin wirklich ticke.
Doch, man hätte können, und man hat. Putin ist nicht erst mit der Invasion der Ukraine zu einem gefährlichen Autokraten geworden. Der Krieg in Georgien (2008), die Ermordung Oppositioneller (ab den Nullerjahren) und die Verfolgung des feministischen Performance-Kollektivs „Pussy Riot“ (ab 2012) liegen lange zurück. Wer darin, allen voran in der Annexion der Krim 2014, kein Problem sah, der tut sich heute schwer, den Angriffskrieg auf die Ukraine glaubhaft zu verurteilen.
Im Gespräch mit profil fasste der Leiter der Diplomatischen Akademie Emil Brix die Devise Wiens so zusammen: „Wir arbeiten mit dem Regime möglichst eng zusammen, weil uns das wirtschaftliche Vorteile bringt und es uns ermöglicht, eine größere Rolle zu spielen, als es sonst im kleinen Österreich möglich wäre.“ Eine „gewisse Verantwortung“ komme dabei Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zu. Es sei „ein bewusster Schritt hin zu Putin“ gewesen, „das ist ihm nicht nur passiert“. Nach dem Abgang Schüssels führen andere Politiker die Russland-Strategie fort, mit Abschlägen bis heute. ÖVP-Politiker wie der oberösterreichische Landeshauptmann Thomas Stelzer haben die Sanktionen gegen Russland in Zweifel gezogen, weil diese „uns“ mehr schaden würden als Moskau.
Mit Blick auf die nach wie vor große Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas und die guten Geschäfte österreichischer Unternehmen in Russland drängt sich der Verdacht auf, dass manche nur darauf warten, nach einem Ende des Krieges möglichst rasch zu den traditionell guten Beziehungen mit Moskau zurückzukehren.
Diese Haltung wirkt sich auch auf die öffentliche Meinung aus.
Die Behauptung von Twitter-User Franz S. deckt sich beinahe wortgleich mit den Aussagen von FPÖ-Chef Herbert Kickl. Der Ukrainekrieg sei nichts anderes als der „Krieg der USA und der NATO gegen Russland auf ukrainischem Boden“, sagte er bei der Pressekonferenz nach Selenskyjs Auftritt im Parlament (dem die FPÖ-Abgeordneten fernblieben). Mit solchen Politikern können Russlands Informationskrieger getrost auf Aktionen in Österreich verzichten. Das erledigen schon andere für sie.