Meinung

Viktor Orbáns teure Tasse Kaffee

Das EU-Parlament will die Kommission wegen Milliardenfreigaben an Ungarn verklagen. Es wird noch andere Lösungen brauchen.

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Selten war eine Tasse Kaffee so teuer wie jene, die Viktor Orbán Mitte Dezember beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel getrunken hat. Nach acht Stunden Verhandlungen schickte Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz Ungarns Premier kurz zum Kaffeetrinken aus dem Raum, damit die restlichen 26 Staats- und Regierungschefs einstimmig die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beschließen konnten. Orbán hatte die Entscheidung blockiert, nun war der Weg frei – doch um welchen Preis?

Orbán ließ sich seine Abwesenheit teuer bezahlen. Die EU-Kommission hat, wohl im Gegenzug für die Kaffeepause, unmittelbar vor dem EU-Gipfel mehr als zehn Milliarden Euro an Finanzhilfen für Ungarn freigegeben. Die Gelder waren blockiert, weil Ungarn die Regeln der EU zur Rechtsstaatlichkeit und andere Grundwerte bricht. Zwar behauptet Brüssel, dass Ungarn die Vorgaben zur Unabhängigkeit der Justiz erfüllt hätte, doch daran gibt es erhebliche Zweifel – auch vonseiten des EU-Parlaments.

Deshalb hat das Europaparlament nun beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Klage gegen die EU-Kommission von Ursula von der Leyen eingereicht. Ihr wirft das EU-Parlament vor, sich von Orbán erpressen zu lassen. Vertreter der Fraktionen von Christ- und Sozialdemokraten, Liberalen sowie der Grünen und Linken wollen gegen die Freigabe der Gelder vorgehen und „alle zur Verfügung stehenden rechtlichen und politischen Mittel nutzen“, um weitere Auszahlungen zu verhindern.

Das EU-Parlament muss beweisen, dass Ungarn im Gegenzug für die Auszahlung der eingefrorenen EU-Gelder keine relevanten Schritte Richtung Rechtsstaat gesetzt hat, sondern es sich dabei um einen rein politischen Deal mit Budapest gehandelt hat. Urteilt der EuGH in diesem Sinne, müsste Brüssel die Gelder von Ungarn zurückfordern – oder künftige Mittel zurückhalten. Experten bewerten die Chancen des Parlaments als nicht gänzlich aussichtslos.

Um Orbán auszubremsen, muss Brüssel geschlossen gegen dessen Erpressungsversuche vorgehen. 

Die Klage ist der verzweifelte Versuch der Abgeordneten, dem schmutzigen Spiel Ungarns etwas entgegenzusetzen. Er missbraucht mit seinen Blockaden im Rat nicht nur sein Vetorecht. Zu Hause in Ungarn hat Orbán den Rechtsstaat abgebaut, die Freiheit der Medien eingeschränkt und Bürgerrechte beschnitten. Gegen die EU führt er eine Schmutzkampagne, Russlands Präsident Wladimir Putin bezeichnet er als Freund. Orbán ist längst zum Sicherheitsproblem geworden.

Wie viele Linien muss er noch überschreiten, damit die EU endlich handelt?

Um den Despoten in Budapest auszubremsen, müsste Brüssel geschlossen gegen dessen Erpressungsversuche vorgehen.

Eine Möglichkeit wäre das sogenannte Artikel-7-Verfahren, mit dem Ungarn das Stimmrecht entzogen werden kann. Eingeleitet wurde es bereits vor Jahren, aber für den Entzug des Stimmrechts braucht es Einstimmigkeit unter den Staats- und Regierungschefs. Bisher hat Polen Ungarn geschützt, doch seit der Christdemokrat Donald Tusk die rechtsnationale PiS in Warschau abgelöst hat, sind die Karten neu gemischt. Noch zögern die anderen Mitgliedstaaten, diese „nukleare Option“ anzuwenden.

Dabei droht mit dem vorzeitigen Abtritt Charles Michels als Vorsitzender des Europäischen Rates ein neuer Alptraum. Wenn bis Juli kein Nachfolger gefunden ist, geht der Topjob automatisch an jenen Regierungschef, dessen Land dann den halbjährlich rotierenden Ratsvorsitz innehat: Viktor Orbán.

Als Ratspräsident wäre er dafür verantwortlich, Sitzungen zu organisieren und Kompromisse auszuhandeln, kurz: die EU zusammenzuhalten und nach außen zu repräsentieren. Michel ist das ganz gut gelungen, doch Orbán würde den Job wohl anders anlegen. Er könnte das System von innen boykottieren und nachhaltig Schaden anrichten. Es ist ein Szenario, das alle anderen verhindern wollen. Die Staatschefs können mit qualifizierter Mehrheit die ungarische Ratspräsidentschaft aussetzen oder verschieben, Belgien oder Spanien könnte übernehmen.

Doch das wäre lediglich ein weiterer Versuch, irgendwie um Orbán herumzumanövrieren – und langfristig wird es andere Lösungen brauchen. Deshalb hat eine von Deutschland und Frankreich einberufene Expertengruppe die Bildung einer Art „Kern-EU“ vorgeschlagen: eine „Koalition der Willigen“ mit neuen, eigenen Regeln, geschaffen durch einen Zusatzvertrag, in der eine Vierfünftel-Mehrheit reicht, um Artikel 7 einzuleiten. Es wäre ein radikaler Schritt, doch vielleicht ist die Zeit dafür gekommen.

Kreative Lösungen wie die teure Kaffeepause mögen kurzfristig funktionieren. Doch damit hat Orbán bekommen, was er wollte. Und die weit wichtigere Entscheidung, die Freigabe von 50 Milliarden Euro an Finanzhilfen für die Ukraine, hat er dann am zweiten Gipfeltag blockiert. Die Zustimmung dazu macht er von der Auszahlung der restlichen 21 Milliarden Euro an eingefrorenen EU-Mitteln für Ungarn abhängig.

Wenn die Staats- und Regierungschefs Anfang Februar weiterverhandeln, sollten sie besser nicht auf eine erneute Kaffeepause Orbáns setzen: Für den Fall künftiger Auszahlungen droht das EU-Parlament mit einem Misstrauensantrag gegen die Kommission.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.