Kommentar

Was der Krieg mit sich bringt

Ein banger Blick auf den Nahen Osten, wo selbst militärische Siege selten zu mehr Sicherheit führen.

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Der Krieg, der seit einem Jahr droht, schwelt und sich allen Forderungen nach Deeskalation zum Trotz immer lauter ankündigt – ist er jetzt endgültig da? Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für diesen Kommentar wartet alle Welt noch auf die Reaktion Israels, doch niemand glaubt, dass dessen Streitkräfte die rund 200 Raketen, die der Iran am Dienstag auf Israel abfeuerte, unbeantwortet lassen. Im Gegenteil, Israel spürt das Momentum in diesem Mehr-Fronten-Konflikt auf seiner Seite.

Die Hamas in Gaza ist – ein Jahr nach den Massakern des 7. Oktober – als militärische Organisation de facto ausgeschaltet. Die Hisbollah im Libanon wurde durch gezielte Angriffe ihrer Führung beraubt, allen voran ihres Anführers Hassan Nasrallah, der die Organisation 32 Jahre lang gelenkt hatte. Die Offensive Israels im südlichen Libanon dauert an. Und weil Hamas und Hisbollah, beide Teil der vom Iran orchestrierten „Achse des Widerstands“, schwer getroffen sind, steht jetzt das Regime in Teheran selbst im Fokus. Israel scheint bereit, einen offen geführten Konflikt mit dem Iran zu riskieren.

Es sieht nach Krieg aus in der gesamten Region. Keiner der Beteiligten will zurückstecken, jeder sieht in der Fortsetzung von Waffengewalt einen Vorteil. Selbst die verstümmelte Hamas verweigert eine Kapitulation, weil sie am Ende inmitten des verwüsteten Gazastreifens die Chimäre eines Sieges feiern will.

Was heißt das für Israel, für den Westen, für uns?

Israel sieht die Chance, seine militärische Überlegenheit zu nutzen und nach dem Ausschalten der Hamas auch die permanente Bedrohung durch die Hisbollah zu beenden und schließlich die Gefahr einer atomaren Bewaffnung des Iran zu verhindern. Die „Achse des Widerstands“ soll zerschlagen, die militärische Abschreckung wiederhergestellt und vergrößert werden.

Die Ausweitung des Krieges ändert auch die Haltung des Westens gegenüber Israel. Die Kritik an Netanjahus Gaza-Politik rückt in den Hintergrund – das ist schändlich. Die Bedrohung durch die terroristische Hisbollah und den theokratischen Iran bewirkt wiederum, dass der Westen solidarisch an Israels Seite steht – das ist notwendig.

Wohin kann die militärische Strategie führen? Logischerweise sind vorerst alle Ideen für friedliche Lösungen vom Tisch: Niemand spricht jetzt vom Waffenstillstand mit der Hamas, von einer mehrwöchigen Waffenruhe mit der Hisbollah, von einer Friedenskonferenz mit den Palästinensern, von der Wiederaufnahme der Atomverhandlungen mit dem Iran … Jetzt sollen die israelischen Streitkräfte zeigen, wozu sie in der Lage sind. Aber selbst im Fall militärischer Erfolge bleibt die Frage: Was kommt danach? Bis jetzt gibt es noch nicht einmal einen Vorschlag, was aus Gaza werden soll. Was wird auf einen Sieg gegen die Hisbollah folgen? Und, unvergleichlich schwieriger: Gibt es eine Strategie, wie das iranische Regime nachhaltig eingedämmt werden soll?

Langfristige Sicherheit ist keine automatische Folge eines Triumphs am Schlachtfeld.

Militärische Siege und Invasionen enden oft in zermürbenden Besatzungen, einem frustrierenden Abzug und ungelösten Problemen. Israel hat Gaza schon einmal besetzt (von 1967 bis offiziell 2005, de facto bis heute), und den Südlibanon ebenso (von 1982 bis 2000). Der weitere Verlauf der Geschichte lässt an der Sinnhaftigkeit einer Wiederholung zweifeln.

Dazu kommt das unmittelbare Risiko. Kriege verlaufen selten exakt so, wie sie geplant wurden. Der Feind kann Verbündete für sich gewinnen, die eigene Allianz kann uneins werden. Zivilisten werden getötet, die Bevölkerung vertrieben, Fluchtwellen entstehen. Die Weltwirtschaft wird in Mitleidenschaft gezogen, der Ölpreis steigt …

Kriege können gerechtfertigt sein – und sich dennoch als Fehler erweisen.

Es ist das Los der Skeptiker, im besten Fall Unrecht zu haben.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur