Gastkommentar

Was noch hinter dem Lehrermangel steckt

Plädoyer für eine von Grund auf neu gedachte Schule.

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von Bernhard Kernegger 

Viel wurde diskutiert und geschrieben über die fehlenden Pädagog:innen an Österreichs Schulen – zu wenig über dahinterliegende Ursachen und wirkliche Probleme. Wenn im Mental-Health-Barometer 2022 mehr als die Hälfte der Lehramtsstudierenden ihren psychischen Gesundheitszustand als weniger gut bis schlecht beschreiben, dann ist das nicht nur für sich genommen katastrophal, sondern führt uns auch mitten in die Diskussion rund um Schule. 

Bei diesen gesundheitlich angezählten Studierenden handelt es sich auch um unsere angehenden Pädagog:innen, die in ihrem Beruf inhaltlich und psychisch stark gefordert sein werden. Umgekehrt betrachtet erwirbt offenbar unsere junge Generation in der Schule nicht die nötige Resilienz, um trotz dräuender Krisen einen selbstbestimmten, sinnerfüllten Weg durch Bildung und später Beruf zu finden.

Bernhard Kernegger

ist Vizerektor für Lehre und Entwicklung und begleitet seit über 15 Jahren universitäre Transformationsprozesse an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Mehr dazu auf: uninetz.at

Kein Wunder. Wenn wir die radikalen Veränderungen in unserem Lebensumfeld den Veränderungen im Schulbetrieb gegenüberstellen, bemerken wir eine tragische Diskrepanz: Im realen Leben werden komplexe, verzahnte Probleme dominant, auf Einzeldisziplinen basierende Lösungen treten in den Hintergrund. In der Schule werden immer noch die isolierten Fächer zementiert und – Stichwort Kompetenzorientierung – formalisiert auf die Spitze getrieben.

Das bestehende Schulsystem begegnet einer völlig veränderten Welt verbissen mit den immer gleichen Lösungen.

Wenn wir als Gesellschaft in den nächsten Jahren völlig neue Wege des Denkens und Handelns entwickeln müssen (und das steht außer Frage), dann brauchen wir junge Menschen, die nicht nur dazu in der Lage sind, sondern dabei auch ihren Beitrag für eine positive Zukunft erkennen können. Universitäten als Ausbildungsstätten für Lehrer:innen müssen und können dazu beitragen. An der Wiener Angewandten beschäftigen wir uns im künstlerischen Lehramtsstudium deshalb auch mit handlungsorientiertem Lernen anhand von Projekten und systemischem Begreifen über Einzelfächer hinaus. 

Hier schließt sich allerdings ein Teufelskreis: Je mehr Bewusstsein über nötige Veränderungen unsere Absolvent:innen an die Schulen bringen, desto härter stoßen sie an die Grenzen des bestehenden Systems, das zunehmend verbissen versucht, einer völlig veränderten Welt mit immer gleichen Lösungen zu begegnen.

Berufliche Zufriedenheit hängt aber ganz wesentlich davon ab, ob die eigene Arbeit als sinn- und wertvoll wahrgenommen wird. Langfristig führt als wenig sinnhaft empfundene Arbeit verlässlich in berufliche Unzufriedenheit und damit erneut in psychische Belastungssituationen. Je engagierter die Pädagog:innen, desto schmerzhafter die Dissonanz.

Eine auf die Länge der Ausbildung und verbesserte Mängelverwaltung reduzierte Diskussion können wir uns daher nicht länger leisten. Wir brauchen eine von Grund auf erneuerte Schule – jetzt!

Inhaltlich bedeutsame Fragen dahin lauten etwa: Was bedeutet Wissenserwerb in Zeiten globaler Vernetzung, und wie wird gesammelte Information zu reflektiertem Wissen? Wie kommt man vom Wissen ins Handeln? Wie lassen sich die großen Zukunftsfragen in verdaubare Portionen zerteilen und damit individuell und kollektiv bewältigbar machen? Und was bedeutet das für ein neues Berufsbild von Lehrer:innen, als zentrale Mitgestalter:innen einer lebenswerten Gesellschaft von morgen? 

Mögliche Antworten darauf und Modelle für eine Schule des 21. Jahrhunderts liegen auf dem Tisch. Wie eine solche Schule im Sinne offener Lern- und Entwicklungsräume aussehen könnte, wird zum Beispiel  im Rahmen des universitätsübergreifenden UniNEtZ-Projekts umfassend skizziert. Eine darauf aufgebaute breite und zugleich zielstrebige Diskussion ist fällig, wir brauchen ambitionierte und konkrete Zielvorstellungen für eine neue Schule. Damit nicht weitere Teufelskreise entstehen, sondern kohärente Reformmaßnahmen – klug abgestimmt für Schulen, Bildungsdirektionen, Ministerium, Universitäten und pädagogische Hochschulen. Nicht nur Lehrer:innen, wir alle brauchen für unsere psychische Integrität positive Perspektiven und Ansatzpunkte, wie wir unsere Lebensenergie sinnstiftend einsetzen können. Ein ernsthafter und tabuloser Diskurs über Schule, gesellschaftliche Verantwortung und neue Möglichkeiten hätte das Potenzial, weit über Schule hinaus Menschen neu zu inspirieren und damit endlich auch wieder an einer positiven Zukunftserzählung zu arbeiten.