Leitartikel

Wer kann Israel retten?

Das Land gerät immer tiefer in die Isolation, und das sollte niemanden freuen.

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Israel befindet sich in der heikelsten Lage seit seiner Gründung im Jahr 1948. Es gerät immer tiefer in die Isolation, und etwas Schlimmeres kann dem kleinen Staat im unruhigen Nahen Osten nicht passieren. Das erfüllt viele Leute mit Genugtuung, weil sie sich in ihrer Kritik an Israel bestätigt sehen. Doch so richtig die Kritik ist, so falsch ist die Genugtuung.

Wahr ist, dass Israel in die Irre geht und sich dabei ins Unrecht setzt. Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH), wonach Israel seine Militäroperation in Rafah, der südlichsten Stadt des Gazastreifens, einstellen müsse, ist eindeutig. Die Offensive könne zu Lebensbedingungen beitragen, die „zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung“ der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen führen, so der IGH. 13 Richterinnen und Richter urteilten in diesem Sinne, nur zwei stimmten dagegen. Israel hatte die Anrufung des Gerichts durch Südafrika Ende Dezember als antisemitisch bezeichnet, jetzt stellt sich heraus: Sie war gerechtfertigt.

Zudem hat der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), Karim Khan, gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant Haftbefehle beantragt, über die eine Vorverfahrenskammer entscheiden wird. Auch dies stellt dem Vorgehen der israelischen Regierung ein vernichtendes Zeugnis aus.

Niemand folgt der Interpretation der Regierung Netanjahu, die jede Kritik dem Judenhass zuschreibt. „Die Hungersnot, das Leid der palästinensischen Bevölkerung, die Angriffe im Gazastreifen sind – wie wir jetzt auch ja gerichtlich sehen – mit dem Völkerrecht nicht vereinbar“, sagte etwa Deutschlands Vizekanzler Robert Habeck vergangenes Wochenende bei einem Bürgergespräch in Berlin.

Die Isolation Israels in der Völkergemeinschaft lässt sich unter anderem auch an Abstimmungen in der UN-Generalversammlung ablesen. 143 Staaten votierten Anfang Mai für eine Stärkung der Rechte Palästinas bei den Vereinten Nationen, 25 enthielten sich. Bloß acht Staaten stimmten zusammen mit Israel dagegen.

Vergangene Woche anerkannten Norwegen, Spanien und Irland Palästina als eigenständigen Staat.

Die Isolation und der Druck von außen müssen der Regierung Netanjahu gelten, nicht dem Staat Israel.

Währenddessen hält die Regierung Netanjahu unbeirrt an der Militäroperation in Rafah fest. 45 Zivilisten starben laut Gesundheitsbehörde der Hamas vergangenen Sonntag bei einem israelischen Luftangriff auf zwei Hamas-Kommandanten. „Ein Fehler“, räumte Netanjahu ein, doch an seiner Strategie will er nichts ändern. Hunderttausende vertriebene Palästinenser wissen nicht mehr, wo sie Schutz suchen sollen, und niemand weiß, wie man sie versorgen soll.

Israel erntet zu Recht Kritik, Unverständnis, Empörung. Seine Beteuerung, die Streitkräfte betrieben Selbstverteidigung und versuchten die Geiseln aus der Gewalt der Hamas zu befreien, verfängt längst nicht mehr. Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs untersagt Israel prinzipiell beides nicht – wohl aber verbietet es dessen bisherige Methode, großflächig militärisch vorzugehen und massenhaft Palästinenser zu vertreiben, deren Überleben dabei gefährdet wird.

Die zunehmende internationale Isolation Israels ist nachvollziehbar, aber keine Lösung. Israelkritiker der Demokratischen Partei verlangen von US-Präsident Joe Biden, die Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Biden zögert, und das aus gutem Grund. Er ist der Letzte, der noch einen gewissen Einfluss auf Netanjahu nehmen kann. Internationale Gerichte, die Vereinten Nationen, die Europäische Union – sie alle hält Netanjahu seit Langem für Israelfeinde. Allerdings hat Israels Ministerpräsident bereits Anfang Mai angekündigt, den Krieg zur Not auch „allein“, also gegen den Willen und ohne die Unterstützung der USA, durchzuziehen.

Wer also kann Israel noch stoppen? Oder, anders gefragt: Wer kann Israel noch retten? Niemand sollte sich wünschen, dass der einzige demokratische Staat der Region, die Heimat der Juden und damit ein wesentlicher Pfeiler der Weltordnung aus der westlichen Gemeinschaft kippt und zum Ausgestoßenen wird. Damit wäre niemandem geholfen, auch den Palästinensern nicht.

Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, sagte am Montag: „Von jetzt an sage ich nicht mehr ‚Israel‘, sondern ‚Netanjahus Regierung‘.“ Das ist der Punkt. Die Isolation und der Druck von außen müssen der Regierung Netanjahu gelten, nicht dem Staat Israel, so schwer es auch ist, dies voneinander zu trennen.

Es gibt eine Kluft innerhalb Israels, und sie ist die einzige Hoffnung auf eine Wende. Benny Gantz, eigentlich Oppositionspolitiker, aber Mitglied des israelischen „Kriegskabinetts“, hat Netanjahu ein Ultimatum gestellt. Wenn dieser bis 8. Juni keinen Plan für eine Nachkriegsordnung des Gazastreifens vorlegt, will Gantz das Kriegskabinett verlassen. Alles, was ein Ende der Regierung Netanjahu herbeizuführen hilft, dient der Rückkehr der Vernunft in Israel.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur