Wer zwingt Kurz zum Rücktritt?
Politiker, zumal erfolgreiche, treten nicht so einfach zurück. Bundeskanzler Sebastian Kurz ist da keine Ausnahme. Mag auch die Justiz bei ihm und seinem Umfeld Bestechlichkeit und Untreue vermuten; mögen die Verdachtsmomente so dicht sein, dass ein unabhängiger Richter zum Zweck der Ermittlungen eine Hausdurchsuchung genehmigt – Kurz fragt patzig zurück: „Wieso soll ich schon wieder dafür verantwortlich sein?“ (Mittwochabend, ZiB2).
Freiwillig den Weg von der Spitze der Republik ins tiefe Tal der Gestrauchelten anzutreten, schafft kaum jemand. Es braucht jemanden, der die Tragweite des politischen Schadens erkennt, und zwar jemanden, der – oder die – nahe genug an der Macht ist, dies mit der nötigen Autorität feststellen zu können.
Politischer Schaden greift epidemisch um sich. Er nimmt seinen Ausgang bei einer Person – oder wie im konkreten Fall deren zehn – doch dabei bleibt es nicht. Wer sich nicht abgrenzt, wird von Mitverantwortung erfasst. Wenn niemand in der ÖVP öffentlich einbekennt, dass ein Festhalten am Amt bei dieser Verdachtslage untragbar ist, ist auch das Ansehen der Partei dahin. Sie erweist sich als unfähig zur Selbstreflexion und zur Einsicht.
In der ÖVP müsste jetzt jemand gegen Kurz aufstehen und öffentlich einen Satz sagen wie diesen: „Wie wir in der Partei aber damit umgehen, ob wir dieses scheinbar Undenkbare als Treuebruch verteufeln oder als notwendige, fließende Weiterentwicklung begreifen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen in den Ländern und im Bund entscheiden.“
Dieser Satz stammt von Angela Merkel. Sie schrieb ihn im Jahr 1999 in einem Gastkommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und stürzte damit den Ehrenvorsitzenden der Partei, Langzeitkanzler Helmut Kohl, vom innerparteilichen Thron. Kohl war in eine Schwarzgeldaffäre verwickelt gewesen, und auch wenn es müßig ist, unterschiedliche Umstände der damaligen Situation zur heutigen zu erörtern, eines hatten sie gemeinsam: Der politische Schaden war enorm.
Merkel war zu diesem Zeitpunkt Generalsekretärin der CDU, ihr ging es darum, die Ehre und das Ansehen der Partei zu retten. Das tat sie, indem sie aussprach, was niemand sonst an der Führungsspitze auszusprechen wagte. „Es geht um die Glaubwürdigkeit der CDU, es geht um die Glaubwürdigkeit politischer Parteien insgesamt.“ Merkel konnte die CDU nachweislich vor Schlimmerem bewahren.
An Wahlabenden bedanken sich Sieger für das Vertrauen, das ihnen geschenkt wurde. Kurz hat das Vertrauen verspielt, schlimmer noch: Vieles deutet darauf hin, dass er es missbraucht hat. Der politische Schaden an der ÖVP, an der Institution der Bundesregierung, an der Politik insgesamt wird weiter um sich greifen.
Wo ist die Angela Merkel der ÖVP?