Kommentar

Wider die Verzagtheit

Putin muss einsehen, wie stark der Westen ist. Wir auch.

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Gemeinplätze der vergangenen 200 Tage: Putin hält das Heft des Handelns in der Hand; die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen; der Westen ist schwach; die Sanktionen schaden uns selbst mehr als Russland.

Öffentlich geäußerte Selbstzweifel sind Teil einer demokratischen Öffentlichkeit, und der Schock angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres konnte ein Gefühl der Ohnmacht wecken. Doch viele der pessimistischen Einschätzungen sind von antiwestlichen Ideologien motiviert: linker und rechter Antiamerikanismus, Vintage-Style.

Es ist notwendig, dieser Stimmung entgegenzutreten. Nein, der Westen ist nicht schwach. Seine Strategie geht auf.

Der Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive, die vor knapp zwei Wochen begann, beweist, dass militärisch noch alles möglich ist. Die bemerkenswerte Verteidigungsbereitschaft der ukrainischen Truppen in Kombination mit der ebenso bemerkenswerten Unterstützung durch die NATO hat die Schwächen Russlands offengelegt. Ein Beispiel: Die auf dem Papier kaum zu durchdringende russische Luftabwehr erweist sich immer mehr als löchrig. Experten vermuten, dass die Waffensysteme der Russen schlecht gewartet sind und dass zusehends elektronische Bauteile fehlen, die wegen der Sanktionen nicht ersetzt werden können.

Die russische Kriegswalze ist zumindest vorübergehend zum Erliegen gekommen, westliche Aufklärung und westliche Präzisionswaffen zeigen Wirkung.

Falls es nötig sein sollte, dies hinzuzufügen: Es geht dabei nicht um einen Sieg um des Sieges willen. Die Rückeroberung von Städten wie Isjum bedeutet, dass Zehntausende Menschen nicht länger unter fremder Besatzung leben müssen und Aussicht haben, ihr Leben in einer Demokratie fortsetzen zu können.

Noch kann niemand sagen, ob die Befreiung weiterer – oder gar aller – von Russland besetzten Gebiete gelingt. Unmöglich scheint es nicht, immerhin sagt der ehemalige US-General Wesley Clark: „Russland verliert derzeit und wird weiter verlieren.“ Das Weiße Haus hat eben weitere 600 Millionen an Militärhilfe für die Ukraine angekündigt.

Die Stärke der eigenen Seite anzuerkennen, hat nichts mit Arroganz zu tun.

Robert Treichler

Auch die Sanktionen zeigen Wirkung, und dies ist weniger überraschend als der militärische Erfolg. Die Ausgangslage war eindeutig: Das Volumen der russischen Wirtschaft ist kleiner als das des US-Bundesstaates Texas, und Moskau gegenüber stehen die versammelten G7 –  die sieben führenden Industrienationen der Welt – , dazu die gesamte EU, Australien und einige mehr. Wie sollte Russland aus dieser Konfrontation als Sieger hervorgehen?

Das heißt nicht, dass die Energiekrise und die Inflation für den Westen belanglos wären. Doch unsere Staaten haben die nötigen Ressourcen, um die Bevölkerung vor den schlimmsten Auswirkungen zu schützen. Dies ist bereits im Gange. Russland hingegen kann auch in dieser Hinsicht nicht mithalten.

Je länger dieser Krieg und der damit verbundene wirtschaftliche Konflikt dauern, umso deutlicher wird die Überlegenheit des Westens. Kleinmut, Kleingeist und Verzagtheit sind fehl am Platz. Die Stärke der eigenen Seite anzuerkennen, hat nichts mit Arroganz zu tun, denn sie rührt von der Überzeugung, dass eine Niederlage unvorstellbar ist. „Putin kann diesen Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen“, sagte US-Präsident Joe Biden am 26. März bei einem Besuch in Warschau. Anders formuliert: Die freie Welt darf nicht zulassen, dass rücksichtslose Gewalt eine Demokratie zerstört.

Das Treffen von Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) vergangene Woche in Usbekistan sollte es der Welt bewusst machen: Die SCO-Staaten, allen voran China und Russland, wollen die Vormachtstellung des Westens brechen. Um was zu erreichen? Es lohnt sich, dazu die Charta der SCO zu studieren, etwa den Passus zu den Menschenrechten: Demnach sei es das Ziel, „Menschenrechte und grundlegende Freiheiten zu befördern“. Klingt gut, nicht? Doch es folgt eine nicht unwesentliche Einschränkung: Die Stärkung der Menschenrechte müsse „in Übereinstimmung mit der nationalen Gesetzgebung der Mitgliedstaaten“ erfolgen. Wie diese nationale Gesetzgebung aussieht, können gewaltfreie politische Aktivisten wie Alexej Nawalny oder Ilham Tohti  bezeugen; der eine verbüßt eine Haftstrafe in Russland, der andere in China.

Es sollte uns, den Bürgerinnen und Bürgern des Westens, angesichts der alternativen Weltordnung leicht fallen, die eigene Seite zu unterstützen. Dieses Selbstbewusstsein brauchte es im Kalten Krieg, der mit dem Zerfall der Sowjetunion endete; und braucht es jetzt, um die Weltordnung gegen Putins nationalistische Aggression zu verteidigen.

Die ukrainische Armee tut unter großen Opfern alles, um den westlichen Verbündeten zu beweisen, dass ein Sieg möglich ist. Die öffentliche Meinung im Westen sollte das Ihre beitragen. Von uns wird erwartet, dass wir ausreichend Leidensfähigkeit zeigen, wenn Energiepreise und Inflation davongaloppieren. Der Westen ist stärker, als Putin und viele andere dachten. Wir haben keinen Grund zur Schwermut.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur