Wie der Staat unsere Einkommen plündert
Wahlkämpfe sind nicht nur Zeiten der fokussierten Unintelligenz. Sondern auch der wahren Worte: „Was wir dem Steuerzahler antun, grenzt teilweise an Ausbeutung.“ Dieser akkurate Satz ist genau vier Jahre alt, wie auch jener: „Es gibt kaum Länder im OECD-Raum, wo die Differenz zwischen Brutto- und Nettogehalt so groß wie in Österreich ist.“ Gesprochen hat sie der damalige Außenminister Sebastian Kurz, wenige Wochen vor der Nationalratswahl 2017. Der akkuraten Zustandsbeschreibung folgte das Versprechen, die Steuer- und Abgabenbelastung auf unter 40 Prozent des BIP zu senken.
Das Versprechen wurde nicht eingelöst. Und das liegt nicht nur an Corona. Denn in den ersten beiden Regierungsjahren ist die Abgabenbelastung sogar noch leicht angestiegen. Und der Staat kassiert noch immer über 47 Prozent der Arbeitsleistung. Das ist viel zu hoch. Auch daran hat sich in den vergangenen vier Jahren wenig geändert. Mit Deutschland und Belgien liegen nur zwei Länder schlechter als Österreich. Selbst in Schweden sind es „nur“ 42,7 Prozent. Würde ein Durchschnittsverdiener hierzulande ähnlich stark besteuert wie ein schwedischer, blieben ihm 240 Euro netto mehr im Monat.
Nun kann man der Regierung nicht vorwerfen, nichts getan zu haben. Neben der teilweisen Rückerstattung der zu viel abgeführten Lohnsteuern wurden Familien spürbar entlastet und die Steuersätze für die untersten Einkommen reduziert. Dennoch pendelt die Besteuerung des Faktors Arbeit seit knapp 20 Jahren zwischen 47 und 50 Prozent. Wie das trotz mehrerer Entlastungen möglich ist? Ganz einfach: indem der Staat Inflation besteuert. Der technische Begriff dafür lautet „Kalte Progression“, wobei das Problem schon mit der Temperaturangabe beginnt. „Heiß“ würde es besser treffen. In der Praxis sieht das so aus: Eine Arbeitnehmerin, die vor fünf Jahren 30.000 Euro brutto im Jahr verdient hat, zahlte damals 2528 Euro Lohnsteuer im Jahr. Wurde ihr Einkommen jährlich um die Inflation erhöht, bekommt sie heute rund 8,2 Prozent mehr Lohn. Aber sie zahlt um 11,6 Prozent höhere Steuern, obwohl sie nicht mehr verdient, weil ihr ja nur die Teuerung abgegolten wurde.
Durch das Nichtanpassen der Tarifstufen und der Absetzbeträge wird ohnehin schon hoch besteuerten Bürgern noch einmal Geld aus den Taschen gezogen – ohne, dass sie davon etwas mitbekämen. Für den Staat ist das ein sensationelles Geschäft: Ein Prozentpunkt Inflation spült rund 250 Millionen Euro in die Staatskasse. Seit der letzten Steuerreform 2016 sichert sich der Staat enorme Zusatzeinnahmen, allein heuer sind es 2,5 Milliarden Euro. Über politisch groß angekündigte Entlastungen wird nur ein Teil des abgelieferten Geldes wieder an die Bürger retourniert. Aber selbst dieser Prozess kommt in Österreich nicht ohne Umverteilung aus. Wer mehr über die kalte Progression abgeliefert hat, bekommt weniger davon zurück. Das läuft hierzulande dann unter „sozialer Gerechtigkeit“.
Das alles könnte man noch einigermaßen argumentieren, hätte Österreich einen sanierten Staatshaushalt mit einer verträglichen Staatsverschuldung vorzuweisen. Aber auch hier lohnt ein Blick nach Schweden. Der hervorragend ausgebaute nordische Wohlfahrtsstaat hat nur halb so hohe Staatsschulden pro Kopf wie Österreich. Wobei die hohe Pro-Kopf-Verschuldung ja noch mit hohen Investitionen in die Modernisierung der heimischen Staatsstrukturen zu rechtfertigen wäre. Auf der Suche nach Modernisierungen wird man allerdings eher im niedrig verschuldeten Schweden fündig als im hoch verschuldeten Österreich. Hierzulande wird mit steigenden Schulden und immer höheren Steuereinnahmen traditionellerweise das Nichtreformieren finanziert.
Ein Prozentpunkt Inflation bringt dem Staat 250 Millionen Euro.
Die Bürger quittieren all diese Vorgänge mit einem gleichgültigen Achselzucken. Niemand, der dagegen aufbegehrte. Der Zorn der Bürger gilt eher niedrigen Nettolöhnen, hinter denen sie schlecht zahlende Firmen vermuten, nicht dem ausbeuterischen Staat. Das wäre anders, wenn alle Arbeitnehmer ihre Arbeitskosten ausbezahlt bekämen und selbst die Beiträge an die Sozialversicherung und das Finanzministerium abliefern müssten. So wie das in der Schweiz der Fall ist. So würde der Druck auf die Regierung sprunghaft steigen, den wahren Worten auch entsprechende Taten folgen zu lassen. Indem etwa die Steuerstufen und die Absetzbeträge an die Inflation angepasst werden und der Kalten Progression endlich der Garaus gemacht würde.
Zudem braucht es eine Ausgabenbremse nach schwedischem Vorbild. Diese ist nicht jetzt einzuführen, sondern jetzt vorzubereiten. Damit sie nach überwundener Krise einsatzbereit ist, um die zügellose Ausgabenlust der Politik zu bremsen und damit die Basis für eine nachhaltige und spürbare Entlastung zu schaffen. Stattdessen werden immer größere Teile der Steuereinnahmen dazu verwendet, sie über außertourliche Pensionserhöhungen an die Rentner zu verteilen. Wahlkämpfe sind eben nicht nur Zeiten der wahren Worte. Sondern auch der fokussierten Unintelligenz.