Wir müssen über Migration reden
Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice AMS, ist das Gegenteil von einem Scharfmacher. Er agiert stets als eine der raren Stimmen der Vernunft, spricht kompetent Klartext und behält auch in ideologisch aufgeheizten Debatten kühlen Kopf. Diese Woche allerdings klang Kopf für seine Verhältnisse fast beunruhigt: Die Arbeitslosigkeit in Österreich klettert deutlich nach oben und ist in der Tendenz „besonders schlecht“ – speziell bei Migrantinnen und Migranten, in Wien ist mittlerweile fast jeder vierte Arbeitslose ein Flüchtling. Kopf nennt das in seiner nüchtern-analytischen Art „ein ernst zu nehmendes Problem“.
Christoph Wiederkehr ist zwar Politiker, konkret Vizebürgermeister und NEOS-Chef in Wien, dennoch ist ihm Populismus fremd. Statt der zugespitzten Schlagzeile sucht er lieber die unauffällig-zurückhaltende Formulierung. Derzeit weiß er als Bildungsstadtrat nicht, wohin mit all den Hunderten Jugendlichen, die Monat für Monat aus Syrien und anderswo ihren Vätern nach Wien nachziehen, hat schon 1200 zusätzliche Schulklassen eröffnen lassen – und trotzdem übervolle Klassen. Er sprach im profil-Interview mit Kollegen Clemens Neuhold trocken von einer „riesigen Herausforderung“.
Es läuft manches schief. Wir müssen über Migration und Integration reden. Und zwar am besten vernünftig, ohne plumpe Rabiatparolen oder ebenso platte Schönfärberei.
Ruth Beckermann ist eine feinsinnige Dokumentarfilmerin, bekannt für starke leise Töne. Für ihr neues Werk „Favoriten“ drehte sie drei Jahre lang an einer Wiener Brennpunktvolksschule in einem Brennpunktbezirk und porträtiert eine Klasse, in der kein einziges Kind zu Hause Deutsch spricht. Und resümiert in der „Zeit“ desillusioniert: Sie verstehe nicht, warum Österreich als reiches Land Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr unterstützt, gerade an Brennpunktschulen. Und: „Ich finde es dumm von der Mehrheitsgesellschaft, das Potenzial der Kinder nicht zu nutzen.“
Drei Nachdenk-Aussagen binnen weniger Tage von drei Persönlichkeiten, die allesamt weder zu schriller Übertreibung noch zu lautem Alarmismus neigen und schon gar nicht zu fremdenfeindlichen Untertönen. Jeder einzelne dieser Problemaufrisse böte Anlass genug für grundsätzliche Debatten, alle drei zusammengenommen verdichten sich zu einem eindeutigen Befund: Es läuft manches schief. Wir müssen über Migration und Integration reden. Und zwar am besten vernünftig, ohne plumpe Rabiatparolen oder ebenso platte Schönfärberei.
Konkret über Kindergärten, über zusätzliche Sprachkurse, über weitere Lehrerinnen und Lehrer, über Unterstützung für Schulen, inklusive Sozialarbeit. Über notwendige Qualifikationen für den Arbeitsmarkt, schnellere Anerkennung von vorhandenen Berufsausbildungen, Angebote von Schulungen. Über Wohnungen, Verteilung der Neuankommenden über Bezirke und Bundesländer. Über Vermittlung von Demokratie, Meinungs- und Religionsfreiheit. Und über viele andere schwerwiegende Herausforderungen mehr.
Österreich ist ein Einwanderungsland, Österreich braucht Zuwanderung.
Klingt komplex, ist es auch – aber: lohnt sich. Österreich ist ein Einwanderungsland, Österreich braucht Zuwanderung. Quer durchs Land suchen Unternehmen händeringend Fachkräfte, die enorme Zahl von 110 Berufen, von
Hebammen über Warenhausverkäufer, Köche und Zimmerer bis zu Autobuslenkern, steht mittlerweile auf der Mangelberufsliste, für die Zuwanderer geholt werden sollen. Und Politiker, von Arbeitsminister Martin Kocher abwärts, touren quer durch die Welt, um in Vietnam oder Indien oder sonst wo Menschen zu rekrutieren, die in Österreich in der Pflege oder in anderen Gesundheitsberufen arbeiten wollen. Und dringend benötigt werden.
Warum nicht das Potenzial der Menschen nutzen, die ohnehin schon im Land sind? Warum nicht in ihre (Aus-)Bildung investieren? Statt zu riskieren, dass sie in Brennpunkt-gegenden verharren und in Perspektiven- und Arbeitslosigkeit – und in der Folge womöglich in Schlimmeres – abrutschen?
Keine Frage: Das erfordert kluge Konzepte, gehörige Anstrengung und nicht zuletzt auch finanzielle Mittel. Kurz: Das wäre eine maßgeschneiderte Aufgabe für die Regierung und Integrationsministerin Susanne Raab. Die widmet sich aber lieber mit Verve der Frage, was die heimische Leitkultur eigentlich ausmacht – Philharmoniker, Blasmusik und eine Prise Córdoba-Mythos vielleicht? Gemischt mit den 97 Litern Bier und 26 Litern Wein, die statistisch durchschnittliche Österreicher pro Jahr verputzen? Die Vermessung, welche Werte und Lebensstile Österreich zusammenhalten, ist philosophisch nicht uninteressant. Angelegt als reine Operation Trachtenpärchen ist das Manöver aber ein wenig gar durchsichtig, zumal die ÖVP schon vorigen Sommer mit Gedöns zur Rettung von Schnitzel und Normalität ausrückte. Und hilft vor allem bei drängenden realen Problemen in Schulen oder am Arbeitsmarkt keinen Schritt weiter. Sondern führt vor allem zu wolkigen Wortteppichen und Pathos.
Und dem Gefühl von Menschen, von der Politik allein gelassen zu werden.