Wir müssen uns mehr zusammenreißen
Diese Woche startete der Prozess des Jahres. Ex-Kanzler Sebastian Kurz steht als Beschuldigter vor dem Straflandesgericht Wien. Sein vermutetes Vergehen: Er soll vor dem U-Ausschuss gelogen haben – und obwohl schwindelnde Politiker in einem politischen Gremium wohl niemanden besonders überraschen, ist das eben per Gesetz verboten. Kurz wurde damals zu seiner Rolle rund um die Bestellung des Staatsholding-Chefs Thomas Schmid befragt, die er rhetorisch geschickt herunterspielte. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) vermutet aufgrund von sichergestellten Chats Gegenteiliges.
Nun wird also nach ausführlichen Ermittlungen eine Rechtsfrage geklärt. Aber dieser Prozess ist deutlich mehr: Es geht um eine Abrechnung mit dem System Kurz. Und um die Klärung einer Machtfrage, die sich zwischen Justiz, konkret der WKStA, und dem Ex-Kanzler abspielt. Beide Streitparteien schenken sich seit Jahren nichts: Der eine war wegen Ermittlungen gegen seinen besten Freund Gernot Blümel sauer und sprach noch als Kanzler ungeschickt von Reformen im Justizbereich. Die anderen fühlten sich zurecht angegriffen und intensivierten ihre Ermittlungen. Die führten schließlich zum Rücktritt von Kurz, der seitdem noch mehr auf Krawall gebürstet ist und nach Rache dürstet. Eine der beiden Seiten wird am Ende des Tages zumindest im juristischen Sinne Recht bekommen – und das wird wohl Konsequenzen haben.
Die Tragweite dieser Prozesstage ist groß, der Medienandrang dementsprechend. Alle wollen live dabei sein, um aus dem Gerichtssaal zu tickern, tiktoken und zu twittern. Für den großen Schwurgerichtssaal mussten wie im Theater Platzkarten vergeben werden. Und das ist bedenklich. U-Ausschüsse und Prozesse sind in den vergangenen Jahren zunehmend verkommen: zu einer Bühne, auf der politische und persönliche Scharmützel ausgetragen werden; zu einer Arena, in der einer gaffenden Menge Gaudium geboten wird.
In einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, Aufmerksamkeit von Wählern und Lesern zu generieren, werden diese Schauspiele zunehmend schriller und lauter, die Urteile weit vor ihrer Zeit in Zeitungsforen und Social Media gefällt. „Alle Macht geht vom Volke aus, aber sie kann auch alles zerstören“, sagte Ferdinand von Schirach bei der Festrede in Salzburg 2017. „Die Bürger sind nicht mehr nur Empfänger von Nachrichten, sie wurden zu sehr mächtigen Sendern. Politische Karrieren werden so innerhalb kürzester Zeit beendet, Belanglosigkeiten zu Staatsaffären stilisiert“, führt Schirach aus. „Es gibt nicht nur die Schwarmintelligenz, sondern auch die Schwarmdummheit, die Schwarmgemeinheit, und die Schwarmbosheit.“
Er hat Recht, aber niemand leitet dieses Treiben wieder in geordnete Bahnen, im Gegenteil: Die Politik wechselt ambitioniert ihr Kleingeld. Die Chefredakteure dieses Landes mahnen von übermütigen Redakteuren kaum Zurückhaltung und Respekt gegenüber einer Unschuldsvermutung ein, oder säubern ihre Foren, sondern freuen sich über Klickzahlen. Die Justiz scheint verstummt.
Nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, richtig und höchstnotwendig, Korruptionsermittlungen zu führen, wenn es einen Verdacht gibt. Und ja, es ist auch mehr als legitim, über Vorwürfe zu berichten – aber es ist wie alles im Leben eine Frage der Tonalität und Lautstärkeregelung. Laufende Ermittlungsverfahren sind eben noch kein Urteil! Wir Medien sollten uns wie die Politik dringend mehr am Riemen reißen, um auch genau das zu vermitteln, statt auf niedere Instinkte zu setzen und Vorverurteilungen zu befördern.
Nur wenn hier wieder zurückhaltender, reflektierter und weniger sensationsgeil agiert wird, können Ermittlungen, Berichte und Diskussionen darüber ein wertvoller Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft sein. Nur so kann daraus eine saubere, bessere Politik resultieren statt einem Verschleiß an politischem Personal, das wegen einer Justiz-Überprüfung seines Wirkens schon handlungsunfähig gemacht wird. Politiker haben vor allem eines zu verlieren: ihren guten Ruf. Es darf nicht sein, dass dieser unwiederbringlich zerstört wird, bevor man das Endergebnis kennt: Das lautet, sofern es überhaupt zu Ermittlungen kommt entweder Einstellung, Freispruch – oder Schuldspruch, mit allen Konsequenzen.
Strafverfahren inklusive medial-öffentlicher Ächtung sind für Beschuldigte extrem belastend – manche zerbrechen an den jahrelangen Zermürbungen. Einer, der daran kaputt ging, ist der ehemalige Justiz-Generalsekretär Christian Pilnacek. Er war einst ein hochgeachteter Mann und wurde zum Geächteten. Sein sozialer Fall war tief, und er zerbrach daran. Gegen ihn wurden etliche Ermittlungsverfahren gestartet, in einer Causa ein Prozess ausgefochten, er wurde freigesprochen, in anderen Fällen etliches eingestellt. Wir kennen das Endergebnis der Untersuchungen der Justiz noch nicht. Auch Pilnacek wird es nie kennen. Man fand ihn am Freitag tot.