Meinung

Wissenschaftliches Fehlverhalten: Wenn Studien Schrott sind

Mehr als 10.000 Studien wurden im Vorjahr zurückgezogen, soeben eine über Covid-Impfungen. Wie verdorben und fehleranfällig ist die Wissenschaft?

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Als Abonnent des Newsletters von „Retraction Watch“ erhält man jeden Tag Nachrichten über Abgründe der Wissenschaft. Es geht um Fälschung, um Betrug, um Fehlverhalten, Intrigen und erbitterte Fehden in der Scientific Community. Und es geht darum, wie man Manipulationen oder auch profanen Irrtümern auf die Schliche kommt, was mitunter zu einer „Retraction“ führt – dazu, dass ein Fachjournal eine Studie oder einen Artikel zurückzieht, was als größtmögliche Schmach und maximales Imagedesaster betrachtet wird.

Vor einigen Tagen gab das eher mittelmäßig angesehene Journal „Cureus“ bekannt, ein „Paper“ – einen Fachartikel – zu einem heiklen Thema zurückzuziehen: zur Frage, wie viel Schaden die Covid-Impfungen anrichten. Darin wurde behauptet, die Impfstoffe würden bei Weitem mehr Todesfälle verursachen, als sie Menschenleben retten. Die Aussage mochte gefundenes Fressen für all jene sein, die die Impfstoffe für brandgefährlich halten, widersprach aber so krass allen bisherigen Resultaten, dass Forschende aus aller Welt die Arbeit haarklein und erbarmungslos zerpflückten – und dermaßen grobe Fehler fanden, dass sie den Autoren bissig unterstellten, wohl ein Selbststudium an der University of Google absolviert zu haben.

Aus dem Verkehr gezogen

Normalerweise wehren sich Fachjournale angesichts der Peinlichkeit mit Händen und Füßen und oft jahrelang gegen eine Retraction. In diesem Fall jedoch willigten die Herausgeber unverzüglich ein, das Paper in Anbetracht einer Unzahl evidenter Falschaussagen aus dem Verkehr zu ziehen. Damit ist es gleichsam entwertet und kann in fachlichen Debatten nicht mehr als Argument dienen. In anderen Fällen dauerte es mehr als zehn Jahre bis zur Retraction: Ein berühmter Fall ist jene gefälschte Studie, die einen Zusammenhang zwischen der Masernimpfung und Autismus in den Raum stellte.

Auf den ersten Blick mag „Retraction Watch“ wie eine Plattform für Neider und Denunzianten wirken oder wie Krimikost für Nerds. Tatsächlich erfüllen die Betreiber der Website, die auch den Newsletter aussenden, einen enorm wichtigen Job: Sie dokumentieren Fehlverhalten in der Wissenschaft und tragen dazu bei, fehlerbehaftete oder unseriöse Arbeiten zu erkennen und von jener überwiegenden Mehrheit zu unterscheiden, auf deren Gehalt man sich verlassen kann.

Das ist von eminenter Bedeutung, weil Publikationen, möglichst in renommierten Journalen, die wichtigste Währung der Wissenschaft und die Basis für Forscherkarrieren sind. Und auch deshalb, weil Erkenntnisse der Wissenschaft immer öfter Grundlage gesellschaftspolitischer Entscheidungen sind – ob es sich um Maßnahmen gegen eine Pandemie oder gegen die Folgen des Klimawandels dreht. In der Mathematik oder Astrophysik ist es zwar nicht weniger wichtig, dass Papers jeder Prüfung standhalten, doch ihre Sprengkraft ist im direkten Vergleich geringer.

Eine Flut an Schrott

Wurden aber Forschungsergebnisse und Studien früher nicht kontrolliert? Doch, natürlich. Das klassische Prozedere war, dass ein Gutachtergremium die Kernaussagen und Methodik einer Arbeit prüfte und diese „Peer Review“ über die Veröffentlichungswürdigkeit entschied. Doch erstens war diese Sicherheitsschleuse, wie wir heute wissen, schon in der Vergangenheit nicht immer ganz ausreichend. Zweitens sind in jüngerer Vergangenheit ein paar Einflussfaktoren hinzugekommen: zum einen die schiere Flut an Publikationen, speziell aus China und dem arabischen Raum, zum anderen und auch verbunden damit wachsender Zeit- und ökonomischer Druck auf die akademische Welt, wodurch immer weniger Gutachter Kapazitäten und Lust haben, die Artikel der Kollegen unter die Lupe zu nehmen. Zudem lässt sich heute KI einsetzen, um Daten, Bilder und Grafiken zu fabrizieren, und eine ganze Industrie sogenannter „Paper Mills“ schleudert Papers minderer Qualität hinaus wie am Fließband. Während der Pandemiejahre wuchs überdies der Trend zu Online-Preprints: zu noch nicht begutachteten Artikeln, die neue Daten sehr rasch mit der Weltöffentlichkeit teilten.

Kurz vor dem Jahreswechsel veröffentlichte das Fachblatt „Nature“ eine Auswertung der riesigen Datenbank mit problematischen Artikeln, die „Retraction Watch“ betreibt und ständig erweitert. 2023 überschritt die Zahl der Retractions erstmals die Schwelle von 10.000 Papers: Mehr als 10.000 Artikel wurden also im Vorjahr zurückgezogen, wobei Saudiarabien, Pakistan, Russland und China die Charts anführten. Dabei handelte es sich ausschließlich um als echte Forschungsarbeiten ausgewiesene Arbeiten – und nicht etwa um verstaubte Diplomarbeiten, in denen vielleicht ein paar Absätze abgekupfert waren. Zum Vergleich: Zehn Jahre zuvor wurden nicht einmal 2000 Fachartikel zurückgezogen.

Forschende machen Fehler, genau wie alle Menschen

Freilich: Eine Retraction muss keineswegs unehrenhaft sein. Forschende begehen Fehler und können sich irren wie alle anderen Menschen auch. Und scheinbar gute Evidenz kann stets durch bessere widerlegt werden. Das ist kein Malheur und keine Schande, sondern ein heilsamer Prozess. So kann die kritische Beobachtung der Wissenschaftspublizistik dazu dienen, die Tätigkeit und den Output der Fachwelt transparenter zu machen, Irrtümer zu erkennen und zu verhindern, dass diese den allgemeinen Wissensstand kontaminieren und als Grundlage für weitere Arbeiten herangezogen werden. Ein weiteres Beispiel dafür, das immer noch die Gemüter erhitzt: Ivermectin, gerne etwas unfair als „Pferdeentwurmungsmittel“ verspottet.

In Wirklichkeit handelt es sich um ein sehr bewährtes Präparat gegen Parasiten, das in der Human- wie auch Tiermedizin eingesetzt wird und während der Pandemie auf seine Wirksamkeit gegen Covid getestet wurde. Das ist nicht abwegig. Medikamente können „off label“, abseits ihres ursprünglichen Anwendungsgebiets, Nutzen entfalten. Bei Ivermectin war dies allerdings nicht der Fall: Die meisten Studien, die positive Effekte fanden, wurden inzwischen wegen entscheidender Mängel oder Missinterpretationen zurückgezogen; ein völlig normaler Vorgang, sofern man diese Erkenntnisse nicht ignoriert und trotzdem auf einer Wirksamkeit beharrt.

Wie ist aber die enorme Zahl von mehr als 10.000 Retractions im Vorjahr zu deuten? Ist das nicht eine katastrophal hohe Zahl? Haben wir dadurch nicht den Beleg, dass die Wissenschaft ein durch und durch verrottetes System ist?

Ein Selbstreinigungsprozess

Wenn so viele Fachartikel zu Schrott erklärt werden müssen, ist das zweifellos alarmierend. Andererseits: Gemessen an der Gesamtzahl aller Publikationen ist diese Menge immer noch überschaubar: Die Retractions machten im Vorjahr rund 0,23 Prozent aller erschienenen Papers aus (was auch die fast unvorstellbare Produktivität der heutigen Fachwelt verdeutlicht). Und vor allem zeugt diese Zahl von ernsthaften und systematischen Bemühungen, solide von unzulänglichen Arbeiten zu trennen und Letztere für alle Welt erkennbar auszusortieren. Zu ergänzen ist, dass die stark steigende Summe an Retractions auch dadurch zustande kommt, dass alte und sehr alte Fachartikel als fehlerhaft identifiziert wurden. Früher, in der guten alten Zeit, wurde in Wahrheit vermutlich nicht immer so genau hingesehen, und man ließ vielleicht auch eher mal Fünfe gerade sein. Dass Kontrollen heute rigoroser gehandhabt werden, schlägt sich nun auch in den Retraction-Statistiken nieder.

Die steil nach oben geschossenen Zahlen sind nicht zuletzt ein Indiz für eine verstärkt stattfindende, überfällige Selbstreinigung der Forschungswelt. Und dieser Prozess macht die Wissenschaft sehr wahrscheinlich besser. Auch wenn es zunächst wehtut.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft