Kolumne

Bewegungstherapie

1 - Wenn Sie wollen, dass alles bleibt, wie es ist, lesen Sie diesen Text bitte nicht. Wenn nicht, gehen Sie jetzt zu 2.

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Seien wir ehrlich: Wir leben schon zu lange in einer Wohlstandsgesellschaft, um noch ganz bei Trost zu sein. Der Zusammenhang zwischen materiellem Überfluss und geistiger Umnachtung ist in der Forschung lange Zeit übersehen worden. Hier, in dieser Kolumne, wird das nicht der Fall sein. Sollten Sie zufällig Wachstumskritiker m/w/d sein und sich jetzt freuen, dann ist das heute nicht Ihr Tag. Nicht, dass man über die sehr schlichten Wachstumsmodelle, die es heute gibt, nicht reden sollte. Aber ganz ehrlich: Weniger ist mehr  – das sagen meist die Leute, die so viel haben, dass sie den Überblick verloren haben. Es gibt aber noch andere, die keine Marie Kondō  brauchen, und die wissen, dass ihnen was fehlt.  Die Postmoderne muss man sich erst mal leisten können, und nicht wenige, die anderen Verzicht predigen, sind finanziell autark oder, wie man früher gesagt hat, haben ordentlich geerbt. Schön für euch – aber das hier ist nicht euer Text. Wir sehen und hören uns dann bei anderer Gelegenheit.

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Für die, die noch da sind: Diese Kolumne ist geschrieben für Leute, die noch was reißen wollen, egal wie alt sie sind und ob sie männlich, weiblich, divers sind und mehr oder weniger selfietauglich. Es ist ein Text für Leute, die nicht glauben, dass die Welt eh bald untergeht, weil es ihnen selbst schlecht geht oder sie nicht wissen, was sie mit dieser Welt anfangen können. Kurz: ein Text für alle, „die nicht aus Schaden dumm bleiben“ wollen, wie es der Karl Kraus in Kenntnis eines nicht unerheblichen Teils seiner Landsleute gesagt hat. 

 

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Solche Leute nennt man heute Transformationsfähige, früher hätte man gesagt: Bewegliche, also keine Stubenhocker, im geistigen Sinn, versteht sich jetzt. Geistige Beweglichkeit, Kopf- oder Wissensarbeit sagt man auch dazu, ist was Feines, weil schöne und praktische Weltverbesserungen (aka Innovationen) herauskommen, die uns erfreuen oder ganz einfach nur das Leben leichter machen, am besten beides. Transformationsfähigkeit ist ziemlich genau das Gegenteil von monotoner Routinearbeit. Die österreichische Bundeshymne hat einen Sprung nach vorn gemacht, weil auch die Töchter groß sein können, nicht nur die Söhne, und das ist gut so. Jetzt muss man aber auch ans „Land der Hämmer, zukunftsreich“ rangehen. Dabei brauchen wir nicht, wie im 19. Jahrhundert, mehr Dampfhammer, sondern Hammerdenker m/w/d, die das Gedachte auch umsetzen wollen und können. Selbermacher. Niemand wird fitter, wenn er andere beim Joggen beobachtet.

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Der amerikanische Dichter Gil Scott-Heron hat  im Gefolge der Studenten- und Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre in den USA ein schönes Stück geschrieben: „The Revolution Will Not Be Televised“ – die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen. Übrigens auch nicht auf Twitter, Instagram oder Facebook. Das gilt fürs Leben auch. Das findet zunehmend in Bubbles statt, wo man sich rückversichern kann, dass man eh recht hat. Das ist falsch. Beweglichkeit kommt von Bewegung, und die wichtigste heute ist, dass man versucht, sich mit Neuem anzufreunden, zu schauen, was da eigentlich an Gutem dran ist, wenn es unsere Komfortzonen und Gewohnheiten stört. Viele Medien und die in ihnen tätigen Menschen neigen dazu, anderen immer was Neues mitzuteilen, Nachrichten, News, immer neue Aufmerksamkeit, das ist ihr Geschäft. Selbst sind sie nicht immer so scharf auf Veränderung, im Gegenteil. Vieles an der Medienkrise hat damit zu tun, dass Medienleute ihre Bubble mit den Interessen der Menschen verwechseln, für die sie arbeiten. Das ist in diesem Beruf besonders blöd, weil man sich überflüssig macht. Dagegen gibt es nur ein Mittel: sich selbst bewegen und es nicht immer nur den anderen empfehlen.

 

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Bewegungstherapie ist reine Kopfsache. Wer gesünder werden will, kann nicht andere für sich joggen lassen. Wer klüger werden will, darf nicht warten, dass er zu denen gehört, die von populistischen Politikern als Fahrgäste des Lebens hingestellt werden, nichts anderes meint nämlich die schwachsinnige Phrase von „den Menschen, die wir abholen müssen“. Zu viel Kümmern sorgt für Verkümmerte. 

 

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Für die, die nur jammern wollen, dass sich alles ändert, ist diese Kolumne nix, ich sag es gerne noch mal. Aber für die anderen, die nicht auf den Bus warten und auch nicht aufs Taxi, sondern selber gehen, da könnte es schon passen. Für alle, die keine sturen Quadratschädel haben also, sondern wissen, dass der Kopf rund ist, damit das Denken die Richtung ändern kann, wie es Francis Picabia gesagt hat. Für die, die neugierig sind und die was vom Leben wollen. Und wissen, dass wir dafür aufstehen und uns bewegen müssen.

 

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.