Kolumne

Bildungslücken – oder wie war das noch mal mit: fürs Leben lernen wir?

Ja, es geht ums Lernen, aber lesen Sie bitte trotzdem weiter.

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Nicht mehr lange, dann wird es wieder Herbst, die Schule fängt an, die Universitäten und Hochschulen füllen sich allmählich, und alle greifen sich an den Kopf. Man könnte glauben, das geschieht, weil der die allerwichtigste Rolle spielt in der Schule, doch dafür gibt es keinen Anlass. Der Kopf und das, was drin ist, spielt in der Bildung eine eher untergeordnete Rolle, und das darf man sich im Wortsinn so vorstellen. Das Bildungssystem ist ein ziemlicher Apparat, eine Maschine, die ständig in Bewegung ist, wo Zahnräder ineinandergreifen, wo nichts zufällig passiert und das Ergebnis am Ende, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, eben in den Kopf fällt. Eingetrichtert sozusagen.

Fertig ist der Akademiker, männlich, weiblich, divers.

Im Bildungssystem, wie wir es kennen, ist der Kopf unten und eine Schüssel, die etwas auffängt, was oben erzeugt wird. Bildung, Bildung, Bildung, so rufen die Weltverbesserer seit der Aufklärung im Chor. Sie tun das nicht leichtfertig oder weil sie Eltern, Lehrern und Kindern feindselig gegenüberstehen, also jedenfalls nicht grundsätzlich. Sie tun es, weil sie hoffen, dass aus der Schüssel, in die man Bildungsnormen und Standards hineintrichtert, am Ende mehr rauskommt, als man eingefüllt hat, und zwar für alle. Das ist die Idee. Wir lernen ja bekanntlich nicht für die Schule, auch nicht für die Hochschule, sondern fürs Leben, und das soll gut werden. Je mehr Bildung in die Schüssel fällt, desto besser geht es uns, weil wir dann eine angenehmere Arbeit (Schreibtisch, gehobener Dienst vs. Schaufel, Außendienst bei minus 10 bis plus 38 Grad) bekommen. Bildung dient also dem Menschen und seinem Aufstieg. Und gleichzeitig, sozusagen als Nebeneffekt, hat man bei den Bessergebildeten auch mehr, die für Demokratie und Rechtsstaat einstehen, für Menschenrechte und Fortschritt, für Wissenschaften und mehr Fairness, weil sie das alles schon vom Kindergarten übers Gymnasium bis zur Seminargruppe gehört haben, immer wieder.

Gut gemeint ist selten gut gemacht. Dass Bildung immer zur Hochschulreife und dann zum Studium führen muss, ist eine Vorstellung, die sich politisch erst seit den 1970er-Jahren verbreitet hat. Das liegt daran, dass die Leute, die sich um Bildung kümmern, meist nichts anderes kennen als die Bildung, die sie haben. Sie sind selber durch höhere Schulen marschiert und dann an die Uni. Sie halten es für normal, dass man sich dann in Ämter und Behörden einbucht oder in Konzerne, die sich von Ämtern und Behörden meist durch ein besseres Gehalt unterscheiden. Alle Bildung, die es so gibt, ist reproduzierbare Bildung, also Wissen von der Stange. Man lernt, was andere schon gelernt haben, und ein bissl was dazu, was der Zeitgeist gebietet. Am Ende aber wissen fast alle Absolventen das Gleiche. Unterschiede im Talent und den Fähigkeiten werden nach wie vor nur in Sonntagsreden und auf dem Papier beschworen. Die Schule ist wie eine Fabrik. Man braucht Leute, die umsetzen, was in die Schüssel gefallen ist, das Wissen von der Stange.

Innovationen und Transformationen kriegt man natürlich damit nicht hin, weil die von eben jenen Unterschieden der Ideen in den Köpfen leben, um die es geht. Klar: Grundbildung ist super. Aber in einer Wissensgesellschaft sind die vorn dabei, die einen eigenen, wachen Verstand haben. Das gilt für alle: Handwerker, Köche, Bäuerinnen und Krankenpfleger, nicht nur für Akademiker. Wissensarbeit ist Können, Meisterschaft. Mit Zeugnissen hat das längst nicht immer zu tun.

Es ist die Arbeit, auf die wir trotz Roboter und KI nicht verzichten können, all das, was nicht Routinearbeit ist. Wer nur abspult, was irgendwann mal auswendig gelernt wurde – Juristen und Steuerberater etwa, die nur ihr Programm durchexerzieren –, ist dabei ebenso überflüssig wie Manager, die nur ihre Pläne abarbeiten. Das kann die Maschine besser. Unser Bildungssystem, auch das höhere, wurde viel zu lange immer mehr auf dieses sture Abarbeiten des Vorhandenen, der Routinen, ausgelegt. Deshalb sind Innovationen bei uns immer noch die Ausnahme, nicht die Regel. Einheitsbildung macht arm.

Passt Lebenstüchtigkeit, Wissen, wie man sich helfen kann, in den Lehrplan? Heute nicht. Und das ist der Fehler. Wer sich zu helfen weiß, der fürchtet sich nicht vor allem Neuen. Wer neugierig bleibt, braucht keine Noten. Es gibt ein Recht auf Bildung, aber keins auf Schlauerwerden ohne Mühe. Leichte Bildung ist eine Lüge für die Schüssel. Vielleicht ist das die größte Bildungslücke von allen.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.