Zur Woke-Bewegung: Vorsicht, Kränkung!
Dieser Artikel erschien im profil Nr. 52 / 2020 vom 20.12.2020.
Die Wirklichkeit, besonders der Teil, für den die Menschen verantwortlich sind, kann einen zur Verzweiflung bringen. So war das immer schon, blättern Sie in einem beliebigen Geschichtsbuch. Aber die Menschheit ist zum Glück schlau, und so erfand sie das Beste, das uns je untergekommen ist: den gesellschaftlichen Fortschritt. Dass es den gibt, ist weitgehend unumstritten, das könnte jeder beliebige Leibeigene des 16. Jahrhunderts bestätigen.
Doch der gesellschaftliche Fortschritt, wie ihn vor allem die Linke bisher betrieben hat, gilt plötzlich mehr und mehr als Auslaufmodell, ein bisschen wie der Dieselmotor. Er wird nach und nach durch eine neue - ebenfalls linke - Fortschrittsideologie ersetzt: Sie wird mit dem englischen Slang-Begriff "woke" (eigentlich korrekt: awake) bezeichnet, der "wach" bedeutet, im Sinne eines ausgeprägten Bewusstseins für gesellschaftliche Missstände, vor allem Rassismus und Sexismus. Wie jede neue Bewegung verfügen die Woke-Anhänger über Elan, Sendungsbewusstsein, hochgesteckte Ziele und neue Strategien, wie sie dahin gelangen wollen. Sie kämpfen zum Beispiel für eine Welt ohne Rassismus, und wer würde ihnen dabei nicht das Allerbeste wünschen?
Können Sie Erfolge verzeichnen? Klar! Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd, der am 25. Mai dieses Jahres in Minneapolis von einem Polizisten grausam erstickt wurde, nahm der öffentliche Druck der Woke-Bewegung so stark zu, dass bald danach der Film-Klassiker "Vom Winde verweht" vom Streaming-Dienst HBO Max aus dem Programm gestrichen wurde. (Später durfte er mit Warnhinweisen versehen wieder gezeigt werden.)
Wenn Sie sich nun fragen, worin der Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen besteht, dann sind Sie nicht woke genug. Wären Sie es, leuchtete Ihnen blitzartig ein, dass die Darstellung der Sklaverei in dem 1939 gedrehten Südstaatenepos rassistische Züge aufweist und Rassismus auch ein ursächliches Motiv der Tötung von George Floyd ist - ein und dieselbe Sache also. So geht Woke.
Nun ist erhöhte, vielleicht auch übersteigerte Sensibilität in der Frage des Rassismus nichts Verwerfliches, doch das ist bloß der harmlose Aspekt der neuen Bewegung. Zu diesem gesellen sich noch ein paar deutlich unangenehmere, etwa eine absichtsvolle Blindheit für jeglichen Kontext. Das führt zu absurden Bewertungen, was anstößig sei. So geriet etwa in diesem Jahr die britische Comedy-Serie "Fawlty Towers" des Ex-Monty-Python-Stars John Cleese ins Fadenkreuz. Die Woke-Zensoren skandalisierten an der Komödie aus den 1970er-Jahren konkret die Rolle des pensionierten - und geistig im Nachlassen begriffenen - Majors, der in einer Folge zwei rassistische Begriffe verwendet. Dass sich der tattrige Major gerade dadurch wieder einmal zur Witzfigur macht, ändert in der Bewertung der Antirassisten gar nichts. "Fawlty Towers" musste vom Streamingdienst der BBC aus dem Programm genommen werden.
Gelegentlich wird ein Vergehen aufgedeckt, bei dem auch der Übeltäter selbst einsieht, dass es rassistisch war. Ralph Northam, Gouverneur von Virginia, muss sich einen solchen Fehltritt vorhalten lassen, als auf seiner Seite im College-Jahrbuch aus dem Jahr 1984 ein Foto entdeckt wird, auf dem zwei Personen zu sehen sind: eine weiße mit schwarz bemaltem Gesicht - ein Beispiel für sogenanntes, heute verpöntes Blackfacing (sich spöttisch die Haut schwarz zu färben) -, die andere als Mitglied des Ku-Klux-Klans verkleidet. Northam, ein Demokrat, entschuldigt sich umgehend für das Foto und streitet nicht ab, dass es rassistisch sei. Doch weder diese Abbitte noch die Tatsache, dass nie geklärt werden kann, ob Northam tatsächlich eine der abgebildeten Personen ist, lässt die Forderungen nach seinem Rücktritt verstummen. Er bleibt im Amt.
Die Woke-Ideologie beharrt strikt darauf, dass der Kontext einer Handlung oder Äußerung wie im Fall "Fawlty Towers" keine Rolle spielen darf, und sie schließt jegliche Möglichkeit der Einsicht und Reue aus, wenn jemand wie Ralph Northam irgendwann einmal einen Fehltritt begangen hat. Damit vollzieht die Woke-Bewegung eine Abkehr von lang geübten linken Tugenden: den Kontext zu analysieren und Missetätern - auch Straftätern - eine Resozialisierung zu ermöglichen. Was gemäß der neuen Ideologie zählt, sind die Buchstaben der Vorschriften, und die werden so dogmatisch exekutiert wie nur möglich.
Dieser Dogmatismus setzt sich in der Betrachtungsweise von Kunst fort. Ihr wird einfach Vorbildwirkung unterstellt, sodass alles, was jemand in einem Film, Roman, Lied oder Gedicht äußert oder auch nur raunt, einer moralischen Prüfung standhalten muss. Durchgefallen neben vielen anderen ist dieses Jahr Till Lindemann, Sänger der Band Rammstein, der einen Band mit Gedichten veröffentlicht hat, von denen eines den Titel trägt: "Wenn du schläfst". Darin geht es um Sex mit einer Person, die mit Wein und Rohypnol betäubt ist, eine Vergewaltigung also. Die Entrüstung war woke und heftig. Das Gedicht hätte vom Verlag "nicht veröffentlicht werden dürfen", schrieb etwa eine Kommentatorin der "Frankfurter Rundschau".
Was alles nicht erscheinen dürfte, wenn woke Kriterien angelegt werden, füllt Bibliotheken und Playlists. Immer geht es darum, eine diskriminierte gesellschaftliche Gruppe vor Traumata zu bewahren, die der Konsum unmoralischer Erzeugnisse auslösen könnte; und vor Nachahmungstätern, die sich wie im Fall Lindemann von der "Romantisierung einer Vergewaltigung" ("Frankfurter Rundschau") inspirieren ließen.
Künstler schlüpfen ganz ohne Erlaubnis in Rollen, auch mal in die besonders böser Figuren, und erzählen, was sie dabei erleben und tun. Der australische Musiker Nick Cave, der 1996 mit seiner Band das Album "Murder Ballads" herausbrachte, auf dem alle Tracks titelgemäß von Morden handeln, erläuterte das Genre lapidar: "Wenn in einem Song jemand zum Fluss runtergeht, muss immer jemand sterben." Und so liegt seine Duettpartnerin Kylie Minogue am Ende des Songs "Where the Wild Roses Grow" tot am Ufer, mit einer Rose im Mund. Weil es so kommen musste, und ganz ohne Entschuldigung seinerseits. Die gelungene Romantisierung eines Frauenmords blieb in der Pre-Woke-Ära 1996 ungesühnt.
Die Linke hatte früher selbst für deutliche Grenzüberschreitungen mehr übrig. "Soll man de Sade verbrennen?", fragte die französische Feministin Simone de Beauvoir (1908-1986) provokant. Sie meinte die Bücher des Marquis de Sade, der Ende des 18. Jahrhunderts im Kerker gewaltpornografische Texte verfasst hatte. Ihre Antwort: Nein. Unbedingt lesen, verstehen, kritisieren - das ja.
Der Geist der Aufklärung verlangte danach, auch dunkle Triebe und geheime Fantasien hervorzuholen, um das Bild des Menschen komplett zu machen. All das zu unterdrücken, war im Interesse der Obrigkeiten und Kirchen gelegen. Sie wollten verhindern, dass die Menschen verdorben würden - oder sich ihrer Verderbtheit bewusst. Heute übernehmen die Woke-Priester diesen Job.
Der Horizont, den die Aufklärung und die aus ihr hervorgegangene Linke erweitert hat, wird durch die gegenaufklärerische Ideologie der neuen Linken wieder verengt. Als erwünschte Aufgaben der Kunst gelten Inklusion (von Minderheiten), Empowerment (derselben) und Agitation (gegen politisch Unliebsames). Blitzt das Böse auf, darf nicht vergessen werden, es als solches deutlich kenntlich zu machen.
Dieses Bild des Menschen, den man nicht ungeschützt den Übeln und Lastern aussetzen darf, setzt sich im Politischen fort.
Der Journalismus hat in den vergangenen Jahren den Auftrag oktroyiert bekommen, zu entscheiden, wessen Stimme gehört werden soll und welche auf keinen Fall - wobei das Kriterium dafür nicht etwa Relevanz ist, sondern politische Sympathie. Ein Gastkommentar in der "New York Times" von Tom Cotton, Senator des Bundesstaates Arkansas, führte zu einem der berüchtigten Shitstorms - einer der Mann-stoppenden Waffen der Woke-Bewegung. "Send in the Troops" (Schickt das Militär) hatte der Republikaner gefordert und in seinem Text ausgeführt, was US-Präsident Donald Trump bereits angedeutet hatte: Das Militär sollte angesichts der anhaltenden, teils gewaltsamen Demonstrationen in amerikanischen Städten eingreifen. Das war eine alarmierende Forderung (die nicht umgesetzt wurde), und sie kam von jemandem, der Trump nahesteht und als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird. Das machte den Kommentar für die Leser der "New York Times" in jeder Hinsicht relevant.
Woke Leute sehen das anders. Aus ihrer Sicht ist es nicht Aufgabe von Medien, solchen abzulehnenden Meinungen "eine Bühne zu geben". Dieser Terminus suggeriert, dass jede Zeitung nur Aussagen transportiert, denen die Redaktion viel Beifall wünscht. Die Aufgabe, die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen, wird als "He said, she said"-Journalismus (Sagt der eine, sagt die andere) oder "Bothsideism" (beide Seiten ungerechtfertigt gleichermaßen darzustellen) verunglimpft.
Diese Haltung ist deshalb besonders überraschend, weil die neue Linke großen Wert darauf legt, dass die Gesellschaft in allen Institutionen möglichst adäquat repräsentiert wird, natürlich auch im Journalismus. Die Forderung nach Diversität gilt jedoch nur in Bezug auf die Kriterien des Geschlechts und der ethnischen Herkunft. Mitarbeiter mit konservativer - also in den USA: republikanischer - Haltung dürfen unterrepräsentiert sein, ohne dass dies zu Kritik führt.
Im Gegenteil: Auch 2020 verabschiedeten sich mehrere konservative Journalisten, weil sie sich aufgrund ihrer politischen Einstellung in ihrem jeweiligen Medium unerwünscht fühlten. Der Autor und Blogger Andrew Sullivan zum Beispiel verließ deshalb das "New York Magazine", nicht ohne in seinem letzten Kommentar anzumerken, was "konservativ" in seinem Fall bedeuten würde: Er sei kein Aktivist in der Frage von Gender-Identität, aber gegen Trump, für die Legalisierung von Drogen, größere Umverteilung, aggressivere Maßnahmen gegen Klimawandel, Polizeireform, und außerdem sei er einer der Ersten gewesen, der sich für die Homo-Ehe ausgesprochen hatte. Sullivan selbst ist mit einem Mann verheiratet. "Ich weiß nicht, welche Art von Konservativismus noch tolerierbar ist",schrieb er süffisant.
Was passiert, wenn identitätspolitisches Gruppendenken zur Norm wird; wenn abweichende Stimmen ausgeblendet werden, um ihnen keine Bühne zu geben und mehr und mehr konservative Leute die großen Medienhäuser verlassen? Bret Stephens, einer der sehr wenigen konservativen Kommentatoren der "New York Times", warnte im vergangenen November in einem Kommentar, dass die Linke Gefahr laufe, "blind" für die Realität zu werden. Stephens machte dies unter anderem daran fest, dass die gesamte Medienelite neuerlich vom Zuspruch für Donald Trump überrascht worden sei, der am 3. November "80.000 Stimmen von einem Sieg bei den Wahlmännern entfernt gewesen" sei (also nicht von einem Sieg bei der absoluten Zahl der abgegebenen Stimmen).
Tatsächlich ist Donald Trumps Zuwachs an Stimmen von knapp unter 63 Millionen bei seinem Sieg 2016 auf über 74 Millionen bei seiner Niederlage am 3. November aus Sicht der Woke-Bewegung unerklärlich.
Das liegt an einem weiteren Merkmal ihres Blicks auf die Menschen. Gemäß ihrer Ideologie ist nicht bloß Trump selbst Sexist und Rassist (darin stimmen auch nicht woke Leute überein) ,sondern jeder, der für Trump stimmt, muss ein offensichtlicher Anhänger des Sexismus und Rassismus sein. Woher allerdings plötzlich 74 Millionen US-Bürgerinnen und-Bürger kommen, die allesamt diesen Makel in sich tragen, bleibt ein Rätsel.
Die Antwort liegt außerhalb des Woke-Denkens. Viele Menschen sehen Sexismus und Rassismus nicht als zwei der wichtigsten politischen Themen an, wie dies Woke-Anhänger tun. Sie können für Trump stimmen, weil ihnen andere politische Botschaften, die er vertritt, wichtig und sympathisch sind. Seine sexistischen und rassistischen Ausfälle mehr oder weniger billigend oder missbilligend in Kauf zu nehmen, macht sie nicht gleichermaßen zu Tätern. Durch die Woke-Brille betrachtet entsteht jedoch ein manichäistisches Bild, das die politische Realität nicht abbildet, sondern karikiert. Trump-Wählern wird alles unterstellt, was Trump selbst verbrochen hat.
Wer die Welt so sieht oder so zeichnet, kann sie nicht verstehen.
Je erfolgreicher der politische Gegner - die Rechte, besonders deren populistische Ausformung - in den vergangenen Jahren wurde, umso strenger agierte die Woke-Bewegung. Immer restriktiver wurden die Regeln ausgelegt, wer wo aus welchen Gründen nicht sprechen, publizieren oder auftreten dürfe. Die Bezeichnungen der Methoden der Weltverbesserungsideologen sprechen eine deutliche Sprache: Es gibt "Safe Spaces", wo Personengruppen vor möglicherweise kränkenden Inhalten geschützt werden, "Silencing" (zum Verstummen bringen), "Cancel Culture" (Löschkultur) und "No-Platforming" (keine Bühne geben), um der guten Sache zuwiderhandelnde - oder widersprechende - Akteure von Wortmeldungen oder Auftritten abzuhalten. Alt-linke Fortschrittsaktivisten können solchen Taktiken nichts abgewinnen.
Senator Bernie Sanders etwa, 79 und uneingeschränkt links, kommentierte den Versuch, eine Rede der rechten Provokateurin Ann Coulter an der Universität Berkeley in Kalifornien mittels No-Platforming zu unterbinden, so: "Wovor habt ihr Angst - vor ihren Ideen? Stellt ihr harte Fragen. Konfrontiert sie intellektuell!" Doch Sanders' Haltung ist oldschool-linke Liberalität, die woke Linke will nichts hören, nichts lesen und sich nicht mit Thesen konfrontieren, die ihre eigenen Definitionen von Rassismus, Sexismus, Geschlechtergleichheit, Meinungsfreiheit und anderen Begriffen untergraben könnten. Die Welt der Woke-Bewegten verengt sich immer mehr. Falsche Kunst, falsche Gastkommentatoren, falsche Redner-alles muss ausgeblendet werden.
Oftmals auch Fakten, wenn diese dazu dienen könnten-könnten!-eine Minderheit zu kritisieren. profil-Redakteur Gernot Bauer kam im Zuge eines Faktenchecks zur Coronavirus-Verbreitung in Österreich auf Basis von Informationen der dafür zuständigen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) zu folgender Feststellung (profil Nr. 51): "Rückkehrende Migranten vom Westbalkan (wie auch österreichische Touristen) haben das Infektionsgeschehen im Sommer tatsächlich signifikant mitbestimmt." Dieser Satz wurde als "rassistisch" kritisiert, obwohl einwandfrei ersichtlich war, dass er das Ergebnis ernsthafter Recherche war.
Gelegentlich müssen selbst korrekte Fakten ins Reich des Unsagbaren verbannt werden.
Kann sich die neue, linke, woke Fortschrittsideologie am Ende durchsetzen? Vielleicht ja. Aber nur dann, wenn ihre Erfolge bei der Bekämpfung von Rassismus, Sexismus, Ausländerfeindlichkeit und anderen Übeln so groß wären, dass die Mehrheit der Bürger bereit ist, sich den strengen Regeln zu fügen.
Bisher hat die Woke-Ideologie allerdings vor allem unerwünschte Nebeneffekte erzielt:
Die Redefreiheit, ein uraltes, (nicht ausschließlich, aber sehr oft) von Linken erkämpftes Gut, ist plötzlich zu einer politischen Beute der Rechten geworden. Alle neu-linken Zensurbestrebungen spielen ihnen in die Hände, um sich in die Pose der Retter der Menschenrechte zu werfen.
Die immer weiter verästelten Regeln, welche sprachlichen Wendungen, welche Meinungen, welche Filme, welche Autoren bereits jenseits des politisch Zulässigen liegen, bringen vor allem Linke in Schwierigkeiten. Sie wollen eigentlich korrekt handeln, aber bei jeder weiteren Verengung der Welt macht ein Teil der Truppe schlapp und wendet sich vom sicher guten, aber leider nicht realisierbaren Woke-Ideal ab.
Die identitätspolitischen Maximen stoßen rasch an die Grenzen des politisch Machbaren. Weil Kamala Harris, die jamaikanisch-indische Senatorin von Kalifornien, zur Vizepräsidentin gewählt wurde, muss Gavin Newsom, der Gouverneur des Bundesstaates, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin nominieren. Das Anforderungsprofil platzt ethnisch aus allen Nähten: Den Job müsse zum ersten Mal ein Afroamerikaner kriegen, sagen die einen; nein, zum ersten Mal ein Latino, verlangen die anderen; unbedingt wieder eine Frau und "People of Colour" wie Harris, fordern die nächsten; jemand asiatisch-amerikanischer Herkunft Newsom ist nicht zu beneiden.
Schließlich wächst der Widerstand gegen die Woke-Ideologie überall da, wo das liberale Denken tiefer verwurzelt ist als die Lust an moralisierender, social-media-tauglicher Empörung. An Universitäten, in Redaktionen und auch in linken Parteien, die ihr Bild einer offenen, streitbaren, freien und genau dadurch sich verbessernden Gesellschaft nicht aufgeben wollen. Die Demokratische Partei der USA hat alles Interesse, die 74 Millionen Trump-Wähler des 3. November 2020 nicht lebenslang zu Rassisten und Sexisten zu verdammen, sondern sie in Tausenden Debatten und freiem Meinungsaustausch davon zu überzeugen, beim nächsten Mal keinen Rassisten und Sexisten zu wählen.
Die demokratische Linke kämpft seit Jahrhunderten darum, dass gesellschaftliche, politische und kulturelle Konflikte offen ausgetragen werden. Keine Obrigkeit und keine ihrer Handlanger sollen verhindern, dass neue, radikale, vermeintlich oder tatsächlich amoralische, auch dubiose Perspektiven auf die Welt eröffnet werden können. Alles soll ans Licht, alles ist diskursreif-das ist eine der Errungenschaften der Aufklärung.
Die Woke-Ideologie ist vielleicht der härteste Gegner, den die linken, liberalen Aufklärer je hatten, weil sie aus den eigenen Reihen kommt und genau das verspricht, wofür auch die alte Linke seit jeher kämpft. Noch steht der Sieger nicht fest. Wahrscheinlich ist es deshalb tendenziös, ein Zwischenergebnis einer der Schlachten ans Ende dieses Textes zu stellen, aber diese Voreingenommenheit ist hiermit transparent gemacht. Also: Anfang Dezember fand an der englischen Universität Cambridge eine Abstimmung über die Regeln zur Redefreiheit statt. Die ursprünglich vorgelegte Fassung hatte so viel Achtsamkeit verlangt, dass Protagonisten "kränkender" Theorien sehr leicht mit Auftrittsverboten - No-Platforming - hätten belegt werden können. Doch 77 Prozent des akademischen Lehrpersonals stimmten für Abänderungsanträge, die genau diese Gefahr bannten. In Hinkunft darf reden, wer andere Meinungen "toleriert".Scharfe Kritik, auch wenn sie als kränkend empfunden wird, ist erlaubt. "Zwei Hoch auf die Demokratie!", jubelte Autor und Cambridge-Absolvent Stephen Fry unter Verwendung eines Zitats von E. M. Forster, ebenfalls Schriftsteller und Cambridge-Absolvent. Die Respektlosigkeit ist wieder diesseits der Legalität beheimatet. Zumindest in Cambridge. Das ist ein Fortschritt.