Paul Lendvai: Wie wichtig ist Selenskyj?
Der große Basler Historiker Jacob Burckhardt (1818–1897) warnte in seinen berühmten „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“: „Schwierig ist es oft, Größe zu unterscheiden von bloßer Macht, welche gewaltig blendet, wenn sie neu erworben oder stark vermehrt wird.“ Die Rolle der Persönlichkeiten ist ein ständiges Thema der Geschichtsschreibung und auch der Publizistik geblieben – vor allen in Krisensituationen. Auch in diesem Jahr beschäftigen sich solche herausragende Autoren wie Henry Kissinger oder Ian Kershaw mit Persönlichkeiten, die das 20. Jahrhundert tief geprägt haben. Die Auswahl in beiden Büchern ist natürlich eigensinnig und bleibt umstritten. Deshalb wird sie auch kritisiert.
Ich bin nach persönlichen Erfahrungen in Ungarn und Österreich, nicht zuletzt nach Hintergrundgesprächen mit 55 Politikern bei der Vorbereitung meines jüngsten Buches, mehr denn je überzeugt, dass der menschliche Faktor schwer fassbar, ja unberechenbar ist, aber ohne ihn sind alle historischen Aspekte unvollständig. Davon zeugen wieder einmal die überraschenden Folgen des von Wladimir Putin geplanten und entfesselten, unprovozierten Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Rolle, die der Staatspräsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj seit dem 24. Februar 2022 im eigenen Land und zugleich auf der weltpolitischen Bühne spielt, bestätigt die vorsichtige Formulierung des deutschen Philosophen Jürgen Habermas: „Es gibt außerordentliche Situationen, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Fantasie, der Mut und die Verantwortungsbereitschaft der handelnden Personen für den Fortgang der Dinge einen Unterschied machen.“
Bei der Abwägung des persönlichen Faktors wirkt vor allem die Überraschung. Die Ukraine stand selbst nach der Deklaration der Unabhängigkeit im Jahr 1991, die der zerfallenden Sowjetunion den entscheidenden Stoß versetzte, im Schatten der Geschichte des russischen Imperiums. Dementsprechend wurden auch die Spitzenpolitiker des unabhängigen Staates stets nach ihrer Haltung gegenüber der russischen Führung beurteilt. Umgekehrt betrachtete Wladimir Putin die Revolutionen im Nachbarland (2004 und 2013/14) als die gefährlichste Herausforderung seiner Herrschaft und die national gesinnte neue Gesellschaftselite als „nazistische Handlanger der NATO zur Spaltung der großen russischen Nation“, die auch die Ukrainer und Belarussen einschließt.
Die herausragenden Historiker der ukrainischen Geschichte Serhii Plokhy und Andreas Kappeler wiesen darauf hin, dass der so überraschende und so mutige Widerstand gegen den russischen Überfall der Geburt einer eigenständigen Staatsbürgernation, einer Willensgemeinschaft zuzuschreiben ist, die sprachliche und ethnische Grenzen überschreitet. Das zeigt am eindruckvollsten die entschlossene Verteidigung des ukrainischen demokratischen Staates durch die russischsprachigen Staatsbürger.
Das Symbol dieser neu entstandenen Nation der Bürger ist der seit April 2019 amtierende, heute 44-jährige Schauspieler Wolodymyr Selenskyj, aus einer jüdischen Professorenfamilie stammend mit russischer Muttersprache. Er wurde mit einer überwältigenden Mehrheit von 73 Prozent zum Staatspräsidenten und seine neue Partei „Diener des Volkes“ zur stärksten Partei gewählt. Es wäre allerdings unklug, die enttäuschende erste Halbzeit seiner Amtsführung zu beschönigen. Selenskyj pflegte zu enge Kontakte mit einem zwielichtigen Oligarchen, Ihor Kolomojskyj, der seine Schauspielerkarriere und Präsidentschaftskampagne finanziert hatte. Er traf umstrittene Personalentscheidungen, und seine erfolglosen Bitten um ein Treffen mit Putin führten zu einem Sturz in den Umfragen. Seine geschwächte Position hatte möglicherweise zur katastrophalen Fehleinschätzung der ukrainischen Widerstandskraft durch den russischen Diktator beigetragen.
Nach dem russischen Überfall erfolgte aber die zweite, noch größere Überraschung in seiner Karriere. Der klein gewachsene Mann mit Stoppelbart in olivgrüner Militärkleidung ist in einigen Wochen zum Staatsmann und charismatischen, weltweit wirkenden Kommunikator geworden. Was in Kiew passierte, ruft die Feststellung des Philosophen Isaiah Berlins (1909–1997) in Erinnerung: „In entscheidenden Augenblicken, an Wendepunkten kann der Zufall, können Individuen mit ihren Entscheidungen und Handlungen, die ihrerseits nicht unbedingt vorhersehbar sind, den Lauf der Geschichte bestimmen.“
Dass er selbst zu einer Hauptfigur der Geschichte geworden ist, beruht darauf, dass er und seine Mitarbeiter Kiew während des Krieges nie verlassen haben. Mit großer emotionaler Kraft und stets voller geschichtlicher Symbolik traf Selenksyj in seinen Reden nach innen und nach außen fast immer den richtigen Ton: vor dem US-Kongress zitierte er Martin Luther King und erinnerte an den japanischen Angriff von Pearl Harbour; in London rief er die berühmteste Rede Churchills, in Paris den Kampf um Verdun und vor dem Deutschen Bundestag die Berliner Mauer in Erinnerung.
„Seine gesamte Kraft, alles, was er in sich trägt und was ihm zur Verfügung steht, wirft er jetzt in die Waagschale“, sagte der Schriftsteller Juri Andruchowytsch. Der Beitrag des Präsidenten zum nationalen Überlebenskampf wird von über 90 Prozent der Ukrainer und Ukrainerinnen laut den Meinungsumfragen anerkannt. Trotz seines Machtzuwachses und der kriegsbedingten Einschränkung der Medien besteht in der Ukraine nicht die Gefahr eines autoritären Regimes. Infolge der russischen Angriffe gegen die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung warnte Selenskyj vor „dem härtesten Winter in unserer Geschichte“.
Die Widerstandskraft der Ukrainer und Ukrainerinnen, verstärkt durch die tatkräftige Solidarität der demokratischen Welt, und nicht das charismatische Auftreten eines einzelnen Politikers bestimmen die Zukunft des Landes. Trotzdem bleibt der einstige Komiker „der Mann des Jahres“ in Europa und darüber hinaus ein symbolträchtiger Kontrast zu solchen Figuren wie Wladimir Putin oder Viktor Orbán. Erst im Rückblick auf das ukrainische Drama wird man allerdings erkennen können, ob Wolodymyr Selenskyj, in den Worten Jacob Burckhardts, sogar als „momentane Größe“, in der sich eine kurze Phase der Geschichte verdichtet, in die ukrainische und wohl auch in die europäische Geschichte eingehen wird.
Paul Lendvai, 93,
ist einer der renommiertesten Publizisten des Landes. Geboren in Budapest, kam er 1957 in der Folge des Ungarn-Aufstandes nach Wien. Bekannt ist der Osteuropa-Experte vor allem als Gastgeber der ORF-Sendung „Europastudio“ und als Autor zahlreicher politischer und historischer Bücher. Zuletzt erschien der Band „Vielgeprüftes Österreich“ im Verlag ecoWing.