Der Trend zum Messer als Tatwaffe
Von Clemens Neuhold
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„Ein abgelehntes Angebot, Cannabis zu kaufen; die Behauptung, man habe nicht korrekt gegrüßt oder über die Familie des anderen nicht mit dem gebotenen Respekt gesprochen. Aber auch Ärger wegen verzögerter Mietzahlungen.“ Alltag in einer Großstadt. Aber nicht, wenn solch läppische Konflikte mit Messern geregelt werden.
Die Aufzählung stammt von Christina Salzborn. Sie ist Vizepräsidentin des Landesgerichts Wien und zitiert die jüngsten Verhandlungen wegen Messerstechereien in ihrem Haus. Ein Fall ist noch nicht bei ihr gelandet: ein Tschetschene (21), der einen Syrer (18) am Wiener Reumannplatz in die Brust gestochen haben soll, weil dieser ihm Drogen verkaufen wollte. Der Tschetschene habe sich in seiner Ehre als Muslim verletzt gefühlt.
Eine von mehreren Messerstechereien, die den Reumannplatz in den vergangenen Wochen zum Synonym für eine entgleiste Straßenkriminalität gemacht haben. Verfeindete ethnische Gruppen, Kampf um Drogenreviere, Verteidigung der „Ehre“. Die Muster sind ähnlich. Seit Jahren.
Messer als statistischer Spitzenreiter
Von 2013 bis 2023 ist die Anzahl der Messer-Anzeigen in Österreich von 1524 auf 2479 gestiegen – ein Plus von über 60 Prozent. Die Zahl aller Gewaltdelikte stieg im selben Zeitraum zwar ebenfalls um über 20 Prozent von 69.000 auf 85.400. Bei diesem Anstieg spielen aber Erpressungen oder gefährliche Drohungen im Internet eine Rolle, die nun als Gewaltdelikte mitgezählt werden.
Schon 2018 meinte Salzborn, die Justiz spüre eine gestiegene Aggression bei Konflikten „zu 100 Prozent“. Damals beschrieb profil erstmals den „Trend zum Messer als Tatwaffe“. Er lieferte eine Erklärung, warum sich Menschen durch blutig illustrierte Medienberichte unsicherer fühlen, obwohl die Gesamtzahl der Gewaltdelikte kaum gestiegen war.
„Intrakulturelle Konflikte“
Wie konnte es so weit kommen, dass in einem entwickelten Land wie Österreich die archaische Form der Konfliktlösung per Messer „trendet“? Eine Erklärung ist die Zunahme an häuslicher Gewalt, bei der auch das Messer zum Einsatz kommt, Stichwort Femizide. Zahlenmäßig stärker ins Gewicht fallen „intrakulturelle Konflikte“. Ein Begriff, mit dem Analysten des Bundeskriminalamts bereits den markanten Anstieg der Messerdelikte zwischen 2014 und 2016 um 21 Prozent erklärten. Und der bis heute seine Gültigkeit hat.
Ab 2015 kamen viele Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan ins Land – meist junge Männer. Jener Teil, der sich auf den Straßen und in den Parks der Städte aufhielt, traf auf bereits bestehende Gruppen wie Tschetschenen, die zwischen 1999 und 2004 in größerer Zahl nach Österreich geflüchtet waren. Es kam zu Konflikten wegen Ehrverletzungen oder Gebietsansprüchen. Mit einem traurigen Höhepunkt im Frühjahr 2016. Vor einem Jugendzentrum in Wien-Donaustadt gingen 30 Afghanen auf acht jugendliche Tschetschenen los und griffen dabei auch zu Messern. Es gab Schwerverletzte. Ein Tschetschene überlebte seine Stichverletzung nur knapp.
Stechen oder gestochen werden
„Für Jugendliche und junge Erwachsene, die auf der Straße ein Messer dabei haben, ist es keine Angriffswaffe, sondern eine Verteidigungswaffe“, schildert Nikolaus Tsekas, Chef des Bewährungshilfe-Vereins Neustart in Wien. „Sie wollen gerüstet sein. Doch sie bringen sich selbst am meisten in Gefahr, wenn sie es beim Streit zücken.“ Letzteres versucht Neustart seinen Klienten bei Anti-Gewalttrainings einzubläuen.
Kriegsflüchtlinge kommen aus einem rauen Umfeld. Auf der Flucht landeten sie mitunter in Flüchtlingslagern, wo mafiöse Strukturen aus Kriminalität, Waffen, Drogenhandel vorherrschen. Man passt sich an. „Daheim und auf der Flucht waren sie in ständiger Verteidigungshaltung, auch mit Messern. Das legt man nicht einfach ab, wenn man über die Grenze kommt“, sagt Afghanistan-Experte Sarajuddin Rasuly.
Der Reumannplatz in Wien-Favoriten wurde in den vergangenen Wochen zum Hotspot der Messerkriminalität. Vor dem Eisgeschäft Tichy zeigt ein junger Mann einen frisch verbundenen Einstich mitten in der Brust. Daneben präsentieren junge Männer den ORF-Reportern von „Wien heute“ ganz selbstverständlich ihre Messer. Einer erklärt, warum er es immer dabei hat: „Falls drei, vier Leute mit Messer kommen, ich stech die auch ab, wirklich, das ist Selbstverteidigung. Wenn Fäuste nix bringen, musst’ zustechen.“ Stechen oder gestochen werden, lautet hier die Formel zur Konfliktbewältigung. Dass man sich durch Verletzungen oder Gefängnisstrafen ins eigene Fleisch schneidet, will hier niemand sehen.
Verschlechterte Strafbilanz von Syrern
Der Machtkampf zwischen verfeindeten Gruppen, zum Teil ethnisch abgegrenzt, dreht sich nicht nur um die Ehre oder um Frauen aus der eigenen Community, die man glaubt, verteidigen zu müssen. Es geht auch knallhart ums eigene Revier zum Drogendealen.
Syrer waren 2015 und 2016 zwar die größte Flüchtlingsgruppe, in der Gewaltstatistik jedoch kaum auffälliger als Österreicher. Das hat sich geändert. In der ersten Welle kamen sie aus – bis Kriegsbeginn – geordneten Verhältnissen. Junge Syrer, die seit 2020 wieder verstärkt um Asyl in Österreich ansuchten, wurden hingegen im Kriegsgebiet oder in Flüchtlingslagern groß, oft ohne Vater, Halt, Schulbildung. Jene, die zur Gewalt neigen, tauchten zuletzt verstärkt auf öffentlichen Plätzen wie dem Reumannplatz auf. Das bringt sie in räumliche Konkurrenz mit etablierten Gruppen, die sich mittlerweile auch aus Nordafrikanern zusammensetzen. Letztere haben sich im Drogengeschäft stark ausgebreitet.
Wem Prater und wem Milleniums-City "gehört"
Der Strafverteidiger Sascha Flatz kennt die Revierkämpfe und Trennlinien. Die Gegend um die Millennium City in Wien-Brigittenau gelte als Bastion tschetschenischer Gruppen, die Venediger Au beim Prater sei hingegen von Afghanen dominiert, weiß er von seiner oft noch jungen Klientel. Flatz ist eine Art Jus-Influencer, der auf TikTok locker über die Untiefen des Strafrechts aufklärt. Über das Kurzvideo-Portal kontaktieren ihn junge Männer immer wieder, wenn sie juristischen Beistand brauchen.
„Sie haben alle ein Messer dabei, weil sie glauben, sich schützen zu müssen. Vor allem, wenn sie außerhalb der Gruppe unterwegs sind und ins Revier der anderen eindringen“, kommentiert er die archaischen Muster mit einer Mischung aus Ernst und Humor.
Jetzt kommt das Messerverbot
Wie geht es weiter? Bewährungshelfer Tsekas sieht trotz der jüngsten Gewaltwelle am Reumannplatz keinen linearen Anstieg der Messerdelikte. „Das verläuft in Wellen.“ So sei auch nach den Jugoslawienkriegen in den 1990er-Jahren ein Anstieg zu verzeichnen gewesen, als verfeindete Gruppen aus Serbien, Bosnien, Kroatien oder Albanien in Wien aneinanderkrachten. In den Nullerjahren habe sich die Lage aber wieder entspannt. Nach einem Peak 2016 ging die Anzahl der Messerdelikte ebenfalls leicht zurück, bis sie nun wieder anstieg – und hoffentlich bald wieder abebbt.
Die wirklich harte Gewaltkriminalität nehme nicht zu, sagt Tsekas. „Wir reden von deutlich unter 100 jugendlichen Intensivtätern in einer Großstadt wie Wien. Das ist wenig im Vergleich mit anderen europäischen Metropolen.“ Intensivtäter werden immer wieder straffällig mit unterschiedlichen Delikten.
Messer im Park statt im Hosensack?
Was Bewährungshelfer wie er dezidiert begrüßen, ist das von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) angekündigte Messerverbot in der Öffentlichkeit. Auch der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig von der SPÖ ist dafür. Nach deutschem Vorbild könnte es für Messer ab einer Klingenlänge von zwölf Zentimetern gelten und helfen, den Teufelskreis aus Selbstschutz, der zum Angriff wird, zu durchbrechen.
„Dann werden die Messer im Park versteckt und bei Notfällen geholt“, glaubt Flatz nur an eine beschränkte Wirkung. Über Messerverbote will er in einer der nächsten TikTok-Folgen aufklären.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.