Missbrauch im Stift Klosterneuburg: "Ist da was dran? Oder nicht?"
Im Stift ging es schon geselliger zu. Ehrungen und Festakte liegen in der Pandemie auf Eis. Der Trakt der Augustiner Chorherren ist für Besucher gesperrt. Nur die Stiftskirche trotzt den Widrigkeiten. Sie ist wegen Renovierungsarbeiten zwar teilweise eingerüstet. Über einen Nebeneingang aber bleibt das Gotteshaus zugänglich, ein Refugium braucht es schließlich auch in Zeiten von Corona.
Das Gespräch mit Maximilian Fürnsinn findet im Stiftscafé statt. Vier Dekaden war der 81-Jährige dem Stift Herzogenburg als Propst vorgestanden. 2019 zog er sich auf das Altenteil zurück-bis ihn im vergangenen Sommer ein Ruf ereilte, dem er sich nicht entziehen wollte. Der Papst hatte dem Stift der Augustiner Chorherren eine Visitation angedeihen lassen, es danach unter Aufsicht gestellt und den deutschen Kurienbischof Josef Clemens zu seinem Delegaten auserkoren.
Seither wacht Clemens über das altehrwürdige prachtvolle Stift. 2020 hatte hier Langzeitpropst Bernhard Backovsky sein Amt niedergelegt. Noch bevor die Augustiner Chorherren einen Nachfolger küren konnten, sprach Rom ein Machtwort. Aus Vatikan-Sicht war "die Situation rund um den von Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern des Stiftes begangenen Missbrauch nicht angemessen gehandhabt" worden.
Clemens, der die meiste Zeit in Rom weilt, arbeitet Hand in Hand mit einem Vertrauensmann vor Ort. Seit 1. Juli 2021 ist Fürnsinn so etwas wie der operative Arm des Delegaten. "Administrator" lautet seine offizielle Funktion. Fürnsinn legt seinen schwarzen Umhang ab. Über der Soutane baumelt ein imposantes goldenes Kreuz. Der Kellner im Stiftscafé lässt sich, davon unbeeindruckt, den Impfnachweis des Prälaten zeigen.
Dass es im Stift zu Übergriffen gekommen war, wurde nach zähen Nachforschungen von Johannes Heibel, Gründer der deutschen "Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen",und Recherchen von profil öffentlich. Im Vatikan gesteht man mittlerweile ein, dass sich die Kirche erst unter medialem Druck ihren Fehlern stellte. Das Gespräch mit Prälat Fürnsinn beginnt mit einer Frage und einer Gegenfrage:
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Etwas später wird der Administrator erklären: "Wir stehen dazu, dass es Missbrauch gegeben hat." Anschuldigungen würden nicht unter den Teppich gekehrt, offene Fälle an die zuständigen Stellen bei der Erzdiözese Wien weitergeleitet. Der Auftrag, sich mit alten Fällen zu befassen, treffe jedoch eher den Delegaten, der sich alle drei, vier Monate bei den Augustiner Chorherren sehen ließe. "Dazwischen tauschen wir uns aus, telefonieren oft, schreiben uns viele Mails." Er selbst fühle sich vordringlich berufen, im Kloster einen "Vergemeinschaftungsprozess" voranzutreiben. Dabei stehe ihm ein erfahrener Mediator zur Seite.
Bischof Clemens macht sich in mehr als tausend Kilometer Entfernung ein Bild. Im Vorjahr betraute er den Justiziar des Bistums Fulda Eric Janson damit, heiklen Verdachtsfällen erneut nachzugehen. Janson ist seit 2008 Offizialatsrat in Fulda und in diesem Amt der erste Laie. Im bischöflichen Offizialat, das frei von Weisungen arbeitet, landen alle kirchlichen Streit-und Strafsachen, das Gros davon sind Ehenichtigkeitsverfahren.
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Fürnsinn: Da bin ich nicht der richtige Adressat. Ich weiß von seinem Auftrag, Voruntersuchungen zu führen, die nicht gleich zu einem Urteil führen, sondern die Materie durchleuchten: Ist was dran? Oder nicht? Bei uns im Stift war er einige Tage. Er ist mit einer Liste von Gesprächspartnern gekommen. Ich habe ein paar Mal beim Abendessen mit ihm getratscht, in der Materie selbst aber nichts mit ihm gesprochen und ihm auch nicht hineingeredet. Ein Richter ist für mich ein Richter. Er konnte jedenfalls alle befragen, die er befragen wollte, und hat auch alle Personalakten aus dem Archiv bekommen.
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Der Pressesprecher ergänzt, man habe dem Mann sogar Unterlagen von Deloitte ausgehändigt. Die Forensik-Abteilung des Steuerberaters war dem durch profil publik gemachten Missbrauchsfall von 1993 nachgegangen. Zur Vorgeschichte: Ein Ordensnovize lockte einen minderjährigen Messdiener in seine Kemenate, machte ihn betrunken und bedrängte ihn sexuell. Danach wurde der Ordensbruder des Stiftes verwiesen, wurde 1996 in Rumänien geweiht und bekam in Deutschland eine Pfarre. Hier verging er sich an einem Elfjährigen.
Ende 2017 berief das Stift Klosterneuburg eine Expertenkommission ein. Von ihrem Bericht wurden 14 Seiten bekannt. Fazit: Es hätten sich "strukturelle Mängel" gezeigt; viele Vorwürfe seien nicht (mehr) nachzuvollziehen; Bernhard Backovsky, der 1993 als Novizenmeister für den Ordensmann zuständig war und 1996 zum Propst gewählt wurde, treffe keine Verantwortung. In den Empfehlungen, die dem Kapitelrat der Augustiner Chorherren ausgehändigt wurden, sahen es die Experten anders. Die im Stift "verantwortlichen Personen haben in der Vergangenheit keinen adäquaten Umgang mit Missbrauchsvorwürfen" gefunden, hieß es hier. Damit waren Backovsky und andere für den Nachwuchs verantwortliche Chorherren gemeint. Danach wollte man das Kapitel schließen. Das Noviziat wurde aufgearbeitet, eine Präventionsstelle eingerichtet, Chorherren und Mitarbeiter des Klosters wurden geschult. Fürnsinn räumt ein, es wäre vielleicht besser gewesen, die Vorwürfe von vornherein extern prüfen zu lassen. Und doch: Die stetige Behauptung, man habe halbherzig aufgearbeitet, "schmerzt mich ein bisschen".
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profil: Den Verdacht teilt der Vatikan, sonst hätte Rom keinen Delegaten eingesetzt.
Fürnsinn: Es ist sinnvoll, alles noch einmal zu prüfen, und auch, dass ein Richter durchschaut, ob Verfahren gut geführt waren, Entscheidungen halten und alles ordnungsgemäß war. Rom möchte auf Nummer sicher gehen, bevor man sagt: Jetzt können wir hier wieder über andere Dinge reden.
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Von 1945 bis heute seien im Stift acht Anschuldigungen von Missbrauch ans Licht gekommen. Davon seien zwei von Rom "als nicht zutreffend" zu den Akten gelegt. Der Fall aus dem Jahr 1993 ist an sich geklärt, beleuchtet wird aktuell der Umgang damit. Einem weiteren Vorwurf ging die Klasnic-Kommission nach. Gemeint ist die von Waltraud Klasnic geleitete "Unabhängige Opferschutzanwaltschaft". Sie sprach den Betroffenen psychologische Betreuung zu. Der fünfte Fall betrifft einen Chorherrn, der in Bergen, Norwegen, in Haft war und inzwischen aus der Kirche ausgeschlossen ist. Zwei weitere Fälle wurden anonym gemeldet; einer habe sich in Luft aufgelöst, im anderen erschien das vermeintliche Opfer der Klasnic-Kommission nicht glaubwürdig.
Gemauert werde nicht mehr, schon der bloße Anschein solle vermieden werden. "Vorwürfe, die das Haus betreffen, wollen wir generell nicht mehr im Haus klären", so Fürnsinn.
In Heiligenstadt etwa habe man vor zwei Jahren sofort reagiert. Eltern hatten einen Mitarbeiter des Pfarrkindergartens beschuldigt, Kinder sexuell belästigt zu haben. Der Pfarrer habe es verabsäumt, dies zu melden. Die Staatsanwaltschaft stellte die Causa ein. Der Pfarrer aber kehrte nicht zurück. Wie es mit ihm weitergehe, "werden wir noch beraten",so Fürnsinn: "Einsetzen können wir ihn erst, wenn er auch einmal zur Kenntnis nimmt, dass er nicht ordnungsgemäß gehandelt hat. Eine Pfarre zu leiten, ist eine verantwortungsvolle Aufgabe."
Das gilt auch für das Stift. Der Konvent besteht aus 40 Chorherren, die als Seelsorger fast 30 Pfarren, vor allem in Niederösterreich und Wien, betreuen. 1,2 Millionen Euro fließen jährlich an Spenden für Vereine, Schulen und Hilfsprojekte. Man richte Veranstaltungen aus, wolle sich als geistliches Zentrum etablieren und denke über die Rolle der Seelsorge nach. Fürnsinn: "Wir brauchen eine Mission, aber die gibt es nur mit einer zusammengewachsenen Gemeinschaft."