Morgenpost

Atomkraft: Geschichte wird gemacht

Am Samstag dreht Deutschland den Atomstrom ab. Die Kritik daran ist heuchlerisch.

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Sollte nicht doch noch jemand im letzten Moment einknicken, werden wir am Samstag Zeuginnen und Zeugen eines historischen Ereignisses: Die letzten drei in Deutschland noch aktiven Atomreaktoren werden endgültig vom Netz genommen. Laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist der Ausstieg „unumkehrbar“.

Wir erinnern uns: Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf und das Atommüll-Lager Gorleben, Blockaden gegen die Castor-Transporte ­- die Anti-Atom-Bewegung war identitätsstiftend für die Bundesrepublik, in ihr fanden in der Vergangenheit breite Schichten der Bevölkerung zusammen. Das Logo „Atomkraft? Nein danke!” mit lachender roter Sonne wurde in den 1980er-Jahren zum wohl bekanntesten Aufkleber einer ganzen Generation. Wenn nun nach mehr als sechs Dekaden die Stromgewinnung aus Kernenergie endet, ist das für sie ein später Triumph, sollte man meinen.

Doch wahnsinnig viel Zuspruch erfährt Habeck für seine Haltung derzeit nicht: die Opposition poltert, die Wirtschaft sorgt sich, der Koalitionspartner FDP fährt ihm in die Parade und fordert, die Meiler doch noch länger betriebsbereit zu halten. Und weiß damit eine große Mehrheit der Deutschen hinter sich: 65 Prozent sprachen sich in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov dafür aus, die Kraftwerke zunächst noch weiterlaufen zu lassen. Der Ausstieg komme zu früh, so der Tenor.

Dass sich viele - und hier besonders die Vertreter von CDU und CSU - davon nun überrascht fühlen ist, nun ja, überraschend. Das Aus für Nuklearenergie ist seit zwölf Jahren beschlossene Sache. 2011 hatte CDU-Kanzlerin Angela Merkel unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima den Ausstieg auf den Weg gebracht. Der damalige Gesetzesentwurf der CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition wurde im Bundestag mit breiter Mehrheit verabschiedet. Und eigentlich hätten die drei verbliebenen Meiler schon Ende vergangenen Jahres abgeschaltet werden sollen. Wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der dadurch ausgelösten Energiekrise ließ man sie – befristet - weiterlaufen. 

Nun steigt die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) auf die Barrikaden: Sie fürchtet eine erneute Steigerung der Energiepreise, die Versorgungssicherheit sei in Gefahr, Deutschland auf alle verfügbaren Energieträger angewiesen.

Ist die Atomkraft tatsächlich unverzichtbar? Dazu ein Blick auf die Zahlen: Im vergangenen Jahr stammten nur noch rund sechs Prozent der Stromerzeugung aus AKW. Dennoch exportierte Deutschland zuletzt deutlich mehr Strom, als es importierte – laut der AG Energiebilanzen, einem Verband der Energiewirtschaft, auch aufgrund der gestiegenen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Und auch der jüngste Bericht der Bundesnetzagentur widerspricht: Das Stromnetz bleibe auch nach Abschaltung der letzten drei AKW und auch bei einem schnellen Aus für Kohlekraftwerke stabil. Die sichere Versorgung mit Elektrizität sei gewährleistet – trotz steigenden Stromverbrauchs durch Wärmepumpen und Elektroautos.

Strommarktexperten wie jene vom Beratungsunternehmen Enervis Energy Advisors halten auch die Auswirkungen der AKW-Abschaltung auf den Strompreis für vernachlässigbar. Sie gehen davon aus, dass er sich im Großhandel im Jahresschnitt um etwa zehn Euro je Megawattstunde erhöhen könnte. Für den Endkunden würde das einen Anstieg von einem Cent je Kilowattstunde bedeuten.

Man kann natürlich trefflich darüber streiten, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, den Kohleausstieg vorher zu bewerkstelligen. Doch Deutschland ist auf die Nuklearenergie nicht angewiesen - was sonst noch gegen ihre Renaissance spricht, hat profil unter anderem 2021 in einer Titelgeschichte dargelegt . Dass etwa die Finnen das anders sehen, hat Robert Treichler hier beschrieben.

Unbestritten ist jedoch: Der Ausbau der Erneuerbaren muss – nicht nur in Deutschland - rasch voranschreiten. Es gibt noch genug Probleme, die gelöst werden wollen, auf dem Weg zu einer klimaneutralen und unabhängigen Stromversorgung. Beispielsweise braucht es flexible Backup-Kraftwerke, die erst mit Gas und später mit Wasserstoff betrieben werden können.

Doch die Schwarzmalerei von Teilen der deutschen Wirtschaft und der heutigen Opposition ist heuchlerisch. Besonders dann, wenn sie sich plötzlich, wie zuletzt CDU-Fraktionsvize Jens Spahn, um den Klimaschutz sorgt. Über das lahme Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren war hier in der Vergangenheit keine Kritik zu hören. Im Gegenteil: Gerade von Seiten der Union wurde und wird die Energiewende immer wieder torpediert.

Mit den Lobliedern auf die Atomkraft wird nun versucht, politisches Kapital zu schlagen und im Falle der Industrie wohl auch monetäres – auf Subventionsgelder kann man nicht oft genug drängen.

Noch zwei Tage, dann werden wir wissen, wer das Match für sich entschieden hat: die Befürworter der Atomkraft oder ihre Gegner? Wetten werden entgegengenommen.

Einen strahlenden Donnerstag wünscht einstweilen

Christina Hiptmayr

Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

war bis Oktober 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.