#Xodus ins Himmelblaue
In den späten 1970er-Jahren, als man unter „soziale Medien“ hierzulande allenfalls das Kirchenblatt und die örtliche SPÖ-Zeitung verstand, besang der britische Popstar Jeff Lynne, Mastermind des Electric Light Orchestra, in schlichter Poesie das salbungsvolle Wirken des Herrn Himmelblau: „Mr. Blue Sky“, heißt es im Refrain des gleichnamigen Songs, „Please tell us why / You had to hide away for so long / Where did we go wrong?“
Inzwischen wissen wir, was wir falsch gemacht haben – und warum wir so lange auf den wolkenlosen Himmel des Microblogging, des Verfahrens der Produktion knapper Text- und Bildbotschaften auf Kurznachrichtendiensten wie X, Threads oder Bluesky, gewartet haben. Erst seit Februar ist die Plattform Bluesky nun einer größeren Öffentlichkeit zugänglich, aber nun scheint ihre große Zeit gekommen. Seit Donald Trumps Wahltriumph vor zwei Wochen verzeichnet sie massiven Zulauf, besser: Überlauf. Denn von X, jenem Portal, das man einst Twitter nannte, wenden sich Menschen dieser Tage aus guten Gründen in Scharen ab.
„Aggressiv und deprimierend"
Auch soziale Medien haben ihre Migrationsgeschichten. Der #eXit, wie man die Abkehr von X genannt hat, geht zügig voran, auch von Österreich: „Twitter ist leider kaputt“, schrieb etwa ORF-Anchorman Wolf vorgestern in seinem Blog: „Es war sehr lange schön mit dir, Twitter, aber seit du dich nur mehr X nennst und täglich immer weiter radikalisierst, war es gar nicht mehr schön, sondern vor allem giftig, voller Lügen, aggressiv und deprimierend.“
Das Elend hat einen Namen: Elon Musk, der 2022 Twitter übernahm und das Portal im Sommer 2023 in X unbenannte, eliminierte das Moderieren von Inhalten, öffnete Menschenhass und Hetze, Fake News und Verschwörungstheorien Tür und Tor. X wurde zum Troll-Paradies eines Milliardärs und Trump-Adoranten. Deshalb haben sich Twitter-Junkies wie „Falter“-Chefredakteur Florian Klenk und Wolf, Österreichs populärster Social-Media-User, nach anderthalb Jahrzehnten des launigen Gezwitschers, nach 13.500 (Klenk) bzw. 127.000 (Wolf) Tweets, von ihren jeweils Hunderttausenden Followern verabschiedet. Der Neustart erregte ad hoc Interesse: Gestern spätnachmittags kam Wolf auf eine sich (minütlich erhöhende) Bluesky-Gefolgschaft von rund 31.000 Menschen, Klenk auf 23.000.
Neubesiedelung
Es versteht sich, dass dies nur der Anfang einer größeren Online-Abwanderungs- und Neubesiedelungswelle sein wird. Denn auf X tummeln sich immer noch weit mehr als 200 Millionen täglich aktive Menschen. Aber die Bluesky-Bosse, der Softwareentwickler Jack Dorsey, 47, der Twitter 2006 mitgegründet hatte, und seine Geschäftsführerin Jay Graber, 33, locken mit einer halbwegs vernünftigen Menschen einleuchtenden Idee: Sie wollen explizit kein neues Twitter etablieren, sondern ein „dezentralisiertes“ soziales Netzwerk, dessen Algorithmen nicht primär auf Kapitalisierung oder Polarisierung zielen.
Stattdessen sollen Benutzerinnen und Benutzer ihre Accounts nach persönlichen Vorlieben formen können: Bluesky soll als „offene Grundlage für ein soziales Internet“ dienen. Ob man dieser starken Ansage gerecht werden kann, wird noch zu überprüfen sein.
Der gute Wille scheint jedoch zu ziehen: Gegenwärtig erlebt Bluesky „explosives Wachstum“, wie es heißt. Mehr als eine Million Menschen tritt der Plattform derzeit täglich bei; Tendenz mit Sicherheit noch steigend. An die 20 Millionen Bluesky-User verzeichnete man gestern Abend. Die 20 Vollzeitangestellten, die das Unternehmen zur Stunde beschäftigt, werden wohl künftig nicht annähernd ausreichen, um den hereinbrechenden Content sinnvoll zu moderieren und technische Kinderkrankheiten in Schach zu halten.
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Einen himmelblauen Dienstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.