Das Amen in der Neutralitäts-Debatte
Die Neutralität musste in Österreich zuletzt für einiges herhalten. Die ÖVP nutzte sie als Ausrede, um der Ukraine nicht bei der Entminung zu helfen. Abgeordnete der FPÖ und der SPÖ nannten sie als Grund für ihr Fernbleiben von der Video-Ansprache Wolodymyr Selenskyjs im Parlament. Und in den Köpfen der Verantwortlichen spielt sie wohl auch bei den guten Geschäften mit Moskau eine tragende Rolle.
Klar, die Neutralität ist in Österreich identitätsstiftend. Eine Mehrheit der Bevölkerung befürwortet sie, in der Politik wird sie kaum offen infrage gestellt. Dafür ist sie viel zu nützlich – vor allem als Ausrede.
Aktuell geht es um die Beteiligung an der sogenannten „European Sky Shield Initiative“ (ESSI), einem geplanten europäischen Luftabwehrsystem. Konkret handelt es sich um eine Art Einkaufs- und Informationsplattform, über die Systeme für die Abwehr von Drohnen- und Raketenangriffen gekauft und Expertise ausgetauscht werden soll. Die Idee ist, dass die beteiligten Länder gemeinsam bessere Preise bei der Beschaffung von Luftabwehrsystemen herausschlagen können. Das war schon bei den Corona-Impfstoffen so, jetzt will man das Konzept auf die Verteidigung anwenden.
Scheinargument Brückenbauer
Bei einer Beteiligung Österreichs an „Sky Shield“ würden wir, im Fall eines Angriffs auf den europäischen Luftraum, sofort darüber informiert werden. Man kann sich fragen, wieso das nicht schon längst der Fall ist. Oder man weist den Plan mit Verweis auf die Neutralität empört zurück.
Diesmal ist es nicht die Regierung, die behauptet, dass eine Beteiligung Österreichs an „Sky Shield“ nicht mit der Neutralität vereinbar wäre. Wien will der Initiative beitreten – und die FPÖ hyperventiliert. Am Wochenende rückten mehrere FPÖ-Politiker aus, um ihrem Zorn über die „verheerende neutralitätspolitische Entscheidung" (FPÖ-Chef Herbert Kickl) einer „kriegstreiberischen Bundesregierung“ (FPÖ-Wehrsprecher Volker Reifenberger) Luft zu machen.
„Österreich verliert damit seine Position der Stärke, die es gerade im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nützen könnte, um als Vermittler auftreten zu können", so Kickl. Jetzt kann man sich fragen, welche Position der Stärke der FPÖ-Chef meint – weder Kiew noch Moskau brauchen Österreich, um Verhandlungen zu starten.
Man kann sich fragen, ob Kickl wirklich glaubt, was er sagt, nämlich, dass Österreich durch die Neutralität geschützt ist und eine Beteiligung am gemeinsamen Schutz des Luftraums „in einen Krieg mit Russland führen“ könnte. Dass die Neutralität Österreich Frieden garantiert, ist quasi das Amen in der Neutralitäts-Debatte. Die Behauptung wird durch ihre ständige Wiederholung nicht wahrer. Die Tatsache, dass die Ukraine ein neutraler Staat ist, hat Russland nicht am Einmarsch gehindert.
Österreich ist nicht wegen der Neutralität ein sicheres Land, sondern aufgrund der Geografie. Um Österreich anzugreifen, müsste ein potenzieller Aggressor zuerst durch die umliegenden NATO-Staaten. Und bei einem Angriff auf die EU wird sich Österreich, Neutralität hin oder her, kaum heraushalten können.
Endet die Neutralität dort, wo es alleine zu teuer wird?
Man kann gegen Zusammenarbeit mit der NATO sein, dann muss man in der Kritik aber früher ansetzen. Österreich arbeitet bei Friedensmissionen mit dem transatlantischen Militärbündnis zusammen.
Man kann auch prinzipiell gegen Luftverteidigung sein, dann sollte man sich aber bessere Argumente überlegen. Pazifismus vielleicht oder die guten Geschäftsbeziehungen mit Moskau. Für die FPÖ findet sich bestimmt etwas.
Experten haben Kickls Argumente längst zurückgewiesen. „Sky Shield“ ist kein Militärbündnis, sondern eine Maßnahme zum Schutz des Luftraums. Mit der Neutralität hat das nichts zu tun.
Diesmal hat das auch die ÖVP erkannt. Österreich wäre bei einem Angriff aus der Luft denkbar schlecht vorbereitet. Und den Luftraum alleine abzusichern, käme deutlich teurer als die Beteiligung an „Sky Shield“, die für Österreich mit rund zwei Milliarden Euro berechnet wird. Womöglich endet Österreichs Neutralität dort, wo man die anderen braucht, weil es alleine zu teuer wird.
Bundeskanzler Karl Nehammer hat die Debatte über Österreichs Neutralität bereits im Mai vergangenen Jahres für beendet erklärt. Nun ist sie schon wieder entflammt – wenn auch anders, als sich das damals abzeichnete. Nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine hatten Experten und Prominente eine Diskussion über die Neutralität gefordert. Die gibt es noch immer nicht. Dafür wird sie bei jeder Gelegenheit hervorgeholt, um Hilfen für die Ukraine zu verhindern. Oder eben, so wie jetzt, um gegen ein gemeinsames europäisches Luftabwehrsystem zu mobilisieren.
Womöglich wäre es klüger gewesen, die Diskussion über die Neutralität doch zu führen – basierend auf Fakten und weniger auf Emotionen.
Siobhán Geets