Morgenpost

Der Bundespräsident betritt Neuland: Erstmals Zweitstärkster mit Regierungsbildung beauftragt

Niemand will mit Wahlsieger FPÖ-Chef Herbert Kickl koalieren. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe. Eine Anti-Kickl-Koalition wird dennoch zu wenig sein.

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Monatelang hat sich Alexander Van der Bellen auf den Tag X vorbereitet. Das Staatsoberhaupt beriet sich in der Präsidentschaftskanzlei mit Kapazundern des Verfassungsrechts, holte sich Expertise von vielen Seiten und  diskutierte mit politischen Entscheidungsträgern verschiedene Varianten durch. Immer stand eine Frage im Mittelpunkt: Was tun, wenn die FPÖ auf Platz 1 landet? Öffentlich ließ sich der Bundespräsident seit dem Frühsommer nichts entlocken, gab keine Interviews, beantwortete keine Fragen. Wusste er doch, dass jeder Halbsatz von ihm Anlass für Spekulationen bieten würde.

Gestern Dienstag war Tag X gekommen. Van der Bellen, mit heiterer Lässigkeit wie immer, kam hinter der berühmtesten roten Tür der Republik, der Tapetentür in der Hofburg hervor und verkündete in wohlgesetzten Worten, dass nicht die stärkste, sondern die zweitstärkste Partei den Regierungsbildungsauftrag erhält. Also die ÖVP und der amtierende Kanzler Karl Nehammer. Der Bundespräsident argumentiert das mit dem „völlig unüblichen Fall“, dass keine andere Partei mit der FPÖ zusammenarbeiten will. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: Kickls Angriffe auf die liberale Demokratie, das Wettern gegen Rechtsstaat und EU, verbale Radikalität, Nähe zu Rechtsextremen und zu Russland, und so weiter.

 Ganz überraschend kam die Abfuhr für Kickl nicht, schon vor Monaten hat er in einem vorauseilenden Wutanfall den Bundespräsidenten die „Mumie in der Hofburg“ genannt. Auch der FPÖ-Chef hat sich seit Monaten auf den Tag X vorbereitet und das Staatsoberhaupt in sein Wettern gegen das so genannte „System“ miteinbezogen.

Viele erste Male

Der Regierungsbildungsauftrag ist in der Verfassung nicht explizit vorgesehen. Dennoch beauftragte bisher der Bundespräsident jedes Mal den Spitzenkandidaten der stimmenstärksten Partei mit der Bildung der Regierung – Van der Bellen agiert erstmals in der Zweiten Republik anders. Und betritt damit politisches Neuland.

Dafür ist Alexander Van der Bellen mittlerweile nachgerade Spezialist. Seit dem Ibiza-Skandal erlebten selbst Feinspitze der Innenpolitik viele „erste Male“, oft mit dem Bundespräsidenten in einer tragenden Nebenrolle. Das erste Mal wird mit Innenminister Herbert Kickl ein Minister entlassen, auf Vorschlag von Kanzler Sebastian Kurz. Das erste Mal eine Bundesregierung via Misstrauensantrag im Parlament abgewählt. Das erste Mal sucht der Bundespräsident eine Expertenregierung und deren Vorsitz aus – und damit wird Brigitte Bierlein die erste Bundeskanzlerin Österreichs. Das erste Mal treibt der Bundespräsident Mails beim Finanzministerium ein, weil dieses ein Höchstgerichts-Urteil ignoriert und nicht an den U-Ausschuss liefert. Und nun das erste Mal, dass nicht die stärkste Partei den Auftrag zur Regierungsbildung erhält. 

Zwar wurde schon nach der Nationalratswahl 1999 nicht die stimmenstärkste Partei, damals die SPÖ, Kanzlerpartei – sondern ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel, der ohne Regierungsbildungsauftrag mit der FPÖ eine Koalition verhandelt hatte. Die wurde schließlich am 4. Februar 2000 angelobt, dem damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil blieb außer einer eisigen Miene wenig Möglichkeit zum Einspruch.

Alexander Van der Bellen hat diesmal mehr Handlungsfähigkeit bewiesen. Dennoch bleibt sein Handeln ein gewagter Schritt: Wenn ÖVP und SPÖ keine Regierung oder nur eine Koalition der Minimalkompromisse zustande bringen, mit oder ohne dritten Partner, wäre das Anlass für Triumph- und Anti-„System“-Geheul der FPÖ. Es liegt nun an den Parteichefs, an Karl Nehammer und Andreas Babler, die Zwiste und Animositäten der Vergangenheit zu beenden und ein sinnvolles Regierungsprogramm zu schmieden. Ohne beherzte Reformen und mutige Projekte macht das wenig Sinn – denn Kickl-Verhindern ist als Kitt, der eine Koalition zusammenhält, zu wenig. Die nächsten Wochen werden spannend.

Haben Sie einen schönen Tag!

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin