Der Westen wird die Ukraine fallenlassen
Guten Morgen!
Eben googelte ich das Wort „Sommerloch“ in der Rubrik „News“. Meine Erwartungen wurden bestätigt: Es ist heuer nicht. Suchergebnis Nummer eins ein Zitat aus der „Tiroler Tageszeitung“: „Keine Polit-Pause: Sommerloch als Relikt aus vergangener Zeit“. Ergebnis Nummer zwei: „PS5 kaufen und vorbestellen: Chancen auf die Konsole trotz Sommerloch“. Ich denke, wir müssen uns hier nicht lange darüber verständigen, warum sich die nächsten Monate nicht ereignisleer ausrollen werden. Nebenschauplatz (wer hätte das „Neben“ vor ein oder zwei Jahren für möglich gehalten!) bleibt Corona. Im Zentrum steht der Ukraine-Krieg mit all seinen Auswirkungen auf die Welt, auf uns.
Mein Leitartikel vom vergangenen Wochenende dreht eigentlich um die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der österreichischen Politiker:innen zu kommunizieren („Nichts als Sprachmüll“). Wie so oft kamen mir während des Schreibens neue Gedanken und Ideen (andere Autor:innen arbeiten mit präziserem Plan) – Sie kennen das vermutlich von guten Gesprächen. Gegen Ende meines Textes schrieb ich, dass „die wichtigste Debatte unserer Zeit, vielleicht unseres Lebens in Deutschland geführt wird und nicht in Österreich“. Ich will hier nicht nochmal auf die Minderwertigkeit unserer Debattenkultur eingehen (abseits von einigen Medien – denken Sie dabei bitte vor allem an profil!). Vielmehr geht es mir um „die wichtigste Debatte unseres Lebens“. Ich bezog mich dabei auf den Ukraine-Krieg, wie er enden wird, wie man ihn beenden kann.
Einschub: Vielleicht ist der Superlativ eine unzulässige Zuspitzung. Leseempfehlung: Henry Kissingers neues Buch „Staatskunst“, im Original „Leadership“. Während Kissingers 99-jährigem Leben wurden schon viele global wichtige Debatten geführt. Das Buch bringt, ohne ihn zu erwähnen, Wladimir Putins Vorgangsweise in eine neue Perspektive.
Wunschdenken und Apotheose
Jedenfalls beherrscht diese Zukunftsunsicherheit fast jede Konversation, die ich führe: Wie geht es weiter? Wie soll es weitergehen? Die Verunsicherung scheint groß – die Menschen glauben, Journalisten wüssten mehr, wüssten mehr, als sie schrieben. Das wissen wir natürlich nicht. Aber einige Gedanken: Ich halte die Meldungen über die Schwierigkeiten des russischen Militärs, über angebliche Engpässe in dessen Arsenalen, über mangelnde Kampfmoral für Wunschdenken, auch für eine Apotheose der ukrainischen Verteidigungsfähigkeiten. Ein Szenario ist für mich daher: Die Russen werden diesen Krieg auch bei massiven westlichen Waffenlieferungen innerhalb von zwölf Monaten gewinnen. Offen bleibt nur, was „gewinnen“ in diesem Zusammenhang heißen kann: Zwölf Monate stimmt dann, wenn Putin sich mit den beiden östlichen Landesteilen und einem südlichen Landstreifen bis zur Krim oder etwas darüber hinaus zufrieden gibt (falls nicht, ist nichts prognostizierbar). Für wahrscheinlicher halte ich inzwischen allerdings: Die Stimmung im Westen wird bald kippen – entweder schon jetzt wegen mentaler Ermüdung oder im Herbst angesichts der dann manifesten Wirtschaftskrise.
Putin bald wieder in der Wirtschaftskammer
Wenn Harald Mahrer von nichtdurchdachten Konsequenzen der westlichen Allianz spricht, dann weiß er schon jetzt 90 Prozent seiner Kammermitglieder hinter sich. Dass er nur kritisiert, ohne eine Alternative zu liefern, liegt wohl daran, dass er eine ziemlich bedingungslose Kapitulation der Ukraine unter Abtretung eben jener Gebiete vorschwebt. Worauf sonst sollte sich Putin denn einlassen – soll er bereits erobertes Gebiet wieder abgeben? Auch Pamela Rendi-Wagner spricht neuerdings von „Friedensverhandlungen“. Ihr würde ich dieselbe Frage stellen: Glaubt die SPÖ-Chefin wirklich, dass Russland sich auf irgendwelche Bedingungen einlassen wird, wenn sie von „ernsthaft mit beiden Seiten auseinandersetzen“ redet?
Fazit: Die Debatte über den Ukraine-Krieg wird in Österreich noch gar nicht geführt worden sein, wenn der Westen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der ökonomischen Verwerfungen die Ukraine fallenlässt. Noch eine Vermutung: Herr Putin wird innerhalb weniger Jahre wieder ein gern gesehener Staatsgast im Westen sein (und in der Wirtschaftskammer auch ein beklatschter).
Einen angenehmen Tag wünscht Ihnen Ihr
Christian Rainer
Herausgeber und Chefredakteur