Die Festung als Leitprinzip
In einer aufwühlenden Reportage berichten Siobhán Geets, Gregor Mayer, Edith Meinhart und Franziska Tschinderle in der aktuellen Titelgeschichte von profil von den Zuständen an den EU-Außengrenzen. Sie erzählen von prügelnden Beamten, organisierter Kriminalität und tausenden Toten. Besonders beklemmend sind die Schilderungen von zwei Flüchtlingen aus Bangladesch und Pakistan, die seit einigen Jahren auf der griechischen Insel Lesbos ausharren. In die EU dürfen sie nicht, abgeschoben werden sie nicht. „Zwei von vielen Existenzen, die an der Festung Europa zerschellten“, heißt es im Text.
„Festung Europa“ nannten die Kritikerinnen und Kritiker diese europäische Migrationspolitik. Mittlerweile wurde der Begriff umgedeutet. 2015 erklärte Johanna Mikl-Leitner, damals noch Innenministerin, wer sich gegen die Festung Europa ausspreche, habe aus der Geschichte nicht gelernt. Solche Stimmen vernimmt man europaweit. Erst letzte Woche sagte der konservative polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, die Außengrenze der Festung Europa gehöre abgedichtet.
Für die FPÖ ist die Festung zum Modewort geworden. Im Juni starteten die Freiheitlichen eine Online-Petition für eine schärfere Migrationspolitik unter dem Titel „Festung Österreich“. Letzte Woche erklärte die Frauensprecherin der Partei, Rosa Ecker, ein Asyl-Stopp sei die einzige Möglichkeit, die österreichische „Festung Familie“ zu schützen. Dass die ÖVP der FPÖ nicht alleine die Sicherheitsrhetorik überlassen möchte, zeigte Karl Nehammer gestern bei einem Gespräch vor Journalisten: „Ich finde, Herbert Kickl stellt ein Sicherheitsrisiko dar“, sagte er am Dienstag. In Nehammers Festung hätte der FPÖ-Chef also keinen Platz.
Die Festung auf Rädern
Festungen begegnen einem aber nicht nur in der Politik. Sie sind zum gesellschaftlichen Leitmotiv geworden, und so fahren sie auch über die Straßen. Der britische Automobilhersteller Land Rover stellte 2015 ein neues SUV-Modell als „luxuriöse Festung auf vier Rädern“ vor. In einem Interview sagte Kolja Rebstock, Mitsubishi-Chef in Deutschland, einmal über die Vorzüge der Stadtgeländewagen: „Man sitzt wie in einer Festung, einer Burg, und man schwebt ein bisschen über den Dingen.“ Wem das handelsübliche Modell zu riskant ist, kann sich im deutschen Bottrop in einer Autowerkstatt aus einer Mercedes G-Klasse seinen rollenden „Panic Room“ bauen lassen, Panzerstahl und Nachtsichtgerät inklusive.
Auch beim Eigenheim geht der Trend zur Festung. Alles muss sicher werden. Alarmanlagen, Videokameras und ein Fingerabdruck-Sensor statt einem Türschloss, dazu am besten noch kalter Stahlbeton und hohe Zäune. Im „Spiegel“ erschien schon vor sieben Jahren ein Text unter dem Titel: „Mein Haus, meine Festung“.
Tatsächlich sind die Bedrohungsszenarien auch in Mitteleuropa in den letzten Jahren komplexer geworden. Die Corona-Pandemie zeigte, wie fragil gesellschaftliches Zusammenleben ist, die Sicherheitsanalyse des Bundesheers warnt vor einem Kollaps der Stromversorgung, also einem „Blackout“. Teuerung, globale Migrationsströme und Klimawandel machen die Lage noch einmal unübersichtlicher. Ob Festungen darauf aber die richtige Antwort sind, ist fraglich. Denn sie bieten im besten Fall nur jenen Sicherheit, die sich darin aufhalten. Die Ausgesperrten bleiben sich selbst überlassen.