Die Pilotin
Die chronische Verengung der Nachrichtenlage auf die Tränen österreichischer Fußballer, auf Milliardärspleiten, Kriegsalltag und die senior moments des amtierenden US-Präsidenten hat einen desillusionierenden Nebeneffekt: Die Erinnerung an gerade verstorbene, schon zeitlebens viel zu wenig gewürdigte Kunstschaffende gerät dabei ins Hintertreffen – als hätten uns die Lebenslinien, Lebenswendungen und Lebenswerke eigensinniger Kreativer nichts Wesentliches mitzuteilen.
Nehmen wir den Fall der amerikanischen Künstlerin June Leaf: Nicht weniger als 76 Jahre lang arbeitete sie an ihrer Kunst, an einem von den Kapriolen des Zeitgeists unbelasteten Schaffen, und bis zuletzt stand sie täglich ab acht Uhr früh in ihrem Atelier, um zu zeichnen, zu malen, Skulpturen und Collagen zu gestalten. Es gab für sie keine Feiertage, keine Ruhephasen: Sie brachte, ohne dies je zu hinterfragen, Dinge zu Papier und stellte Figuren in den Raum, stets so lange, bis ihre Energie aufgebraucht war, bis ihr Körper nicht mehr mitmachte. Dann wartete sie nur darauf, wieder neu ansetzen zu können, spätestens am nächsten Morgen eben.
Keine fünf Wochen vor ihrem 95. Geburtstag ist June Leaf nun, Anfang dieser Woche, in Manhattan einem Magenkarzinom erlegen, fünf Jahre nach ihrem Mann, dem Foto- und Filmkünstler Robert Frank, mit dem sie seit den späten 1960er-Jahren in New York und im kanadischen Nova Scotia zusammengelebt hatte und seit 1975 verheiratet war. Beide wurden fast exakt gleich alt.
Die Frau im Schatten
Tatsächlich stand June Leaf, geboren im August 1929 in Chicago, stets im Schatten ihres renommierten Partners, was sie nicht weiter störte, weil es ihr nie darum ging, im Scheinwerferlicht zu stehen. In Franks autobiografischen Filmen ist sie allerdings sehr präsent, er studierte gerne ihr markantes Gesicht, ließ ihre Stimme, ihre oft erhellenden, die Dinge neu beleuchtenden Kommentare hören. Leafs künstlerische Bedeutung steht außer Zweifel, ihre Arbeiten finden sich unter anderem in der weltberühmten Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art und im Art Institute of Chicago. Im Frühjahr 2016 räumte ihr das Whitney Museum eine große Retrospektive ein, die den Titel „June Leaf: Thought is Infinite“ trug.
Die Wurzeln ihrer expressiven, sehr poetischen Kunst reichen bis in den Symbolismus und den Surrealismus zurück, aus Zinn und Draht formte sie bewegliche Menschenköpfe und -körper, insbesondere konzentrierte sie sich auf den bedrängten, eingeengten (und dennoch machtvollen) weiblichen Körper: eine feministische Künstlerin avant la lettre. Das Kinetische vieler Leaf-Arbeiten geht möglicherweise auch auf die Ballettausbildung zurück, die sie als junge Frau absolvierte. „Ich sehe mich als Tänzerin, die Kunst macht“, sagte sie in einem Interview 2022, als 93-Jährige noch, „oder als kreative Pilotin“. Auch wenn der Tod ihrer physischen Existenz nun ein Ende setzte: June Leafs Denken kennt, wie schon der Titel ihrer Solo-Show betonte, keine Grenzen.
Einen feinen Donnerstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.