Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz
Morgenpost

Die Selbst-Zerstörung der ÖVP

Heimliche Tonbandaufnahmen von Sebastian Kurz, dringliche Klimathemen und die Frage, ob uns vielleicht Thomas Mann retten kann – Gedanken zum Freitag.

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„Mich solls doch wundern", notierte Thomas Mann am 27. September 1954 in seinen Tagebüchern; als gelernter Österreicher kann man, im Lichte der neuen Entwicklung im ÖVP-Affären-Komplex, über solche Notizen nur schmunzeln. Denn wundern tut man sich seit Jahren (oder spätestens seit der Ibiza-Affäre) nicht mehr; erstaunt ist man über die immer neuen Details, Wendungen und Chatprotokolle dann aber doch. So hat der der Anwalt des früheren Kanzlers und ÖVP-Chefs Sebastian Kurz, Werner Suppan, also bekannt gegeben, den Behörden eine Tonbandaufzeichnung übermittelt zu haben, die die schwer belastenden Aussagen des ehemaligen Finanz-Generalsekretärs Thomas “Ich liebe meinen Kanzler” Schmid “widerlegen” sollen. Kurz hatte nach der Hausdurchsuchung ein Telefonat mit Schmid aufgenommen, in dem dieser etwa das "Beinschab-Tool" erklären soll. So weit, so skurril.

Der nunmehrige ÖVP-Kanzler Karl Nehammer, der diese Woche seinen 50. Geburtstag – naja – feiern durfte, gab dazu nur so viel von sich: “Es braucht nun volle Aufklärung, die von den Ermittlungsbehörden zu leisten ist.” Ja, eh. Wie weit die neue und alte Causa sich auf die grassierende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung auswirken wird (die Schwarz-Grüne-Koalition kam bereits in der letztwöchigen Sonntagsfrage nur noch auf 34 Prozent Zustimmung), kann vorerst bloß spekuliert werden. Und was kommt nach der Selbstzerstörung der ÖVP? Wird es Neuwahlen geben? Und wie geht es mit dem aktuellen Untersuchungsausschuss weiter? Die Geschichte muss mal wieder neu geschrieben werden. profil (hier können Sie den aktuellen Podcast zur Affäre nachhören) berichtet weiter online und in seiner kommenden Ausgabe (das E-Paper gibt es ab Samstagfrüh) über die Affäre.

Während Österreich also wieder einmal mit sich selbst beschäftigt ist, werden die entscheidenden Zukunftsfragen (Krieg in Europa, Pandemie, Klimakrise) anderswo behandelt. Gut, dass wir bei profil Journalistinnen und Journalisten haben, für die constructive journalism nicht nur ein Modewort ist. Meine Kolleginnen Christina Hiptmayr und Franziska Dzugan reden alle zwei Wochen in ihrem Klima-Podcast “Tauwetter” (und schreiben in Print und Online) über die großen (und kleinen) Fragen, die auch noch unsere zukünftigen Generationen beschäftigen werden. Diesmal liefert Solarexperte Wolfgang Guggenberger Antworten auf die Frage, wie wir von Gas und Öl unabhängiger werden können. Dringende Hörempfehlung!

Zurück zu Thomas Mann. Der deutsche Großautor (1875-1955) hilft dieser Tage nicht nur durch die Schmid-Kurz-ÖVP-Affäre, sondern ist in den vergangenen Wochen, mit seiner latent schlechten Laune, zu meinem ganz persönlichen Ruhepol geworden. Auf Twitter, der Plattform, die nicht gerade für ruhige Umgangsformen bekannt ist, kann man “Thomas Mann Daily” folgen – und das macht beim täglichen Doomscrolling („Verfassung jenseits schlechter Laune.“, 14. 6. 1939) durchaus bessere Stimmung. Denn der Account @DailyMann besteht ausschließlich aus kurzen Auszügen aus den Tagebüchern des Autors, die kontextlos in die Welt entsendet werden und da einfach mal so herumstehen. „Befinden herabgesetzt.“, heißt es vom 8. August 1920 und man kann sich nicht sattlesen an dem Frust und der schonungslosen Selbstreflexion des notorischen Notizenschreibers – und fühlt sich bei der Lektüre endlich verstanden: „Es wäre kein Wunder, wenn man noch müder wäre.“ (2. 10. 1945)

Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Start ins Wochenende. Oder um es mit Thomas Mann zu sagen: „Week end-Stimmung.“ (9. 9. 1939)

Philip Dulle

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.