Die Zuwanderungsrevolution, die selbst Kickl nicht stoppen kann
Anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ist in jeder Lebenslage ratsam und stärkt den Charakter. „Auf Augenhöhe“ lautet neuerdings auch die Zauberformel in der EU-Diplomatie. Nach Tunesien will die EU mit weiteren Ländern Nordafrikas einen Migrationspakt schließen. Voran geht ausgerechnet die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der postfaschistischen Fratelli d'Italia, die vor ihrer Wahl einen Zuwanderungsstopp versprach. Am Sonntag beschwor sie bei einem EU-Treffen mit nordafrikanischen Ländern in Rom eine neue Nord-Süd-Beziehung „auf Augenhöhe“. Der Deal: Die EU zahlt viel Geld dafür, dass weniger Menschen aus diesen Ländern illegal nach Europa kommen.
Die neuen Gastarbeiter
Und: Mehr Menschen aus Nordafrika könnten dann legal nach Europa. Was wie eine Fußnote der beabsichtigten Deals klingt, könnte sich zu einer Revolution in der Migration auswachsen. Denn es geht dabei längst nicht mehr nur um akademische Spitzenkräfte aus der IT, sondern um eine Masse durchschnittlicher Arbeitskräfte, die Fähigkeiten mitbringen, die in Europa gefragt sind. Wie in unserer Cover-Story „Die neuen Gastarbeiter“ beschrieben, hat das Anwerben von Arbeitskräften aus diesen Ländern längst begonnen, um heimische Spitäler, Altersheime oder Konzerne am Laufen zu halten. Durch EU-Deals könnte der neue Gastarbeiter-Strom aus dem Süden eine neue Dimension erreichen. Welche Zukunft FPÖ-Chef Herbert Kickl auch immer beschieden ist - er will bekanntlich Kanzler werden und führt in Umfragen: Den grassierenden Arbeitskräftemangel, der hinter der sich abzeichnenden Zuwanderungsrevolution steht, kann selbst Kickl nicht ignorieren oder hinter Festungsmauern aussperren.
Mehr legale Zuwanderung, mehr Abschiebungen
Dazu kommt: Kickl will Migranten ohne Asylstatus viel schneller und im großen Stil abschieben. Es klingt paradox: Aber mehr legale Zuwanderung könnte zu mehr Abschiebungen führen. Gerald Tatzgern nennt das „Migrationsmanagement auf Augenhöhe“. Er ist seit 22 Jahren Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Schlepperei und Menschenhandel im Bundeskriminalamt und sieht die Abkommen, die Österreich kürzlich mit Marokko und Indien geschlossen hat, als Vorbild für die EU. Arbeitskräfte aus diesen Ländern wurde ein leichterer Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Karte versprochen, dafür nehmen die Länder abgelehnte Asylwerber garantiert und unkompliziert zurück. Legale und illegale Migration werden verknüpft.
Wenn Geschleppte Schlepper werden
Warum sich der Kriminalpolizist Tatzgern über Migrationsmanagement Gedanken macht, hat einen praktischen Grund: Sollten sich weniger Menschen illegal auf den Weg nach Europa machen, weil sie wissen, sie werden umgehend abgeschoben, könnte die Nachfrage nach Schlepperei deutlich sinken. Das wäre dringend geboten. Denn das internationale Schlepperwesen ist mittlerweile ähnlich etabliert und lukrativ wie der Drogenhandel. Der Aussicht aufs schnelle Geld verfallen besonders Flüchtlinge, die selbst nach Europa geschleppt wurden, wie hier zu lesen. Und das ist toxisch für die Integration.
In der Justizanstalt Eisenstadt stellen Syrer mittlerweile die Hauptgruppe der inhaftierten Schlepper. Dort landen sie, nachdem sie an der ungarisch-burgenländischen Grenze festgenommen werden. Die meisten dieser Syrer sind nicht in Österreich, sondern in anderen EU-Ländern gemeldet. Würden sie dorthin abgeschoben, würde das heimische Gefängnisse entlasten. Warum das dennoch nicht passiert, erklärt der Präsident des Landesgerichts Eisenstadt. Er half selbst als Beisitzer bei 200 Schlepperverfahren aus, um die anderen Strafrichterinnen zu entlasten.
Vielleicht verurteilen eines Tages eingebürgerte Strafrichter aus Nordafrika im Burgenland nordafrikanische Schlepper. Es hängt ja alles mit allem zusammen bei der Migration.
Einen schönen Dienstag - auf Augenhöhe!
Clemens Neuhold