Ein Drittel libertär? Was bei der Corona-Aufarbeitung übersehen wurde
Der Befund ging fast ein bisschen unter. Als die Bundesregierung vergangene Woche die Ergebnisse der Corona-Aufarbeitung unter Leitung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) präsentierte, da ging es vor allem um Fehler. Die mangelnde öffentliche Diskussion über die Einführung der Impfpflicht war ein solcher, die „There is no alternative“-Rhetorik der Entscheidungsträger ein anderer.
Kein großes Thema waren die „radikal-libertären“ Einstellungen, die die Studie bei einem beträchtlichen Teil der Österreicherinnen und Österreicher entdeckte. Darunter versteht man eine grundsätzliche Ablehnung von staatlichen Vorschriften und Zwängen und eine „herausragende Bedeutung“ von Individualität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, wie es im Bericht heißt. Man findet solche Standpunkte traditionellerweise bei Vertretern hart-neoliberaler Wirtschaftspolitik.
Ein Drittel Libertäre?
In Österreich könnten sie aber am Sprung zur Massentauglichkeit stehen. Im Zuge der Studie stimmten 32 Prozent der 1555 Befragten (repräsentativ für die Bevölkerung ab 14 Jahren) der Aussage zu, dass der Staat kein Recht habe, in das Leben der Menschen einzugreifen – 16,1 Prozent stimmten der Aussage voll und ganz, 16,3 eher zu. Auch der Feststellung: „Jeder sollte die Freiheit haben, unter allen Umständen das zu tun, was er will“ gaben 28,4 Prozent der Befragten ihre Zustimmung. Und 13,1 Prozent waren gar der Meinung, die Menschen bräuchten weder Staat noch Regierung, sie könnten sich am besten selbst regieren.
„Das hat mich schon etwas überrascht“, sagt der Soziologe Alexander Bogner, der die Studie geleitet und den Abschlussbericht herausgegeben hat. „Traditionell verbindet man mit Österreich einen starken Etatismus, also die Überzeugung, dass der Staat alle Probleme lösen soll.“ Überdurchschnittlich stark verbreitet sind libertäre Ansichten dem Bericht zufolge bei Menschen, die wissenschaftsskeptisch eingestellt seien und sich während der Corona-Pandemie gegen die Maßnahmen der Regierung verwehrt haben.
Libertäre Internationale
Im Nachbarland Deutschland wurde ein solcher Zusammenhang schon herausgearbeitet. Die Soziologin Carolin Amlinger und der Wirtschaftswissenschafter Oliver Nachtwey veröffentlichten im Vorjahr eine Studie zu den Corona-Protesten mit dem Untertitel: „Aspekte des libertären Autoritarismus.“ Sie verweist darauf, dass Libertäre einerseits gegen staatliche Interventionen mobilisieren, andererseits aber auch darauf, dass sie oft anti-demokratische Tendenzen aufweisen.
Auch außerhalb des deutschen Sprachraums sind libertäre Ideologen auf dem Vormarsch. In der republikanischen Partei in den USA erhalten sie immer größeren Widerhall, der frisch-gewählte Präsident Argentiniens, Javier Milei, bezeichnet sich selbst als Libertären. Seit seiner Amtseinführung im Dezember hat er die Streichung von acht Ministerien, die Privatisierung von Schlüsselindustrien und den Rückbau von Arbeitnehmerrechten angekündigt. (Dass er harte staatliche Repression gegen linke Demonstrationen angekündigt hat, gehört zu den bekannten Ambivalenzen libertärer Politik.)
Weitere Forschung notwendig
Ob solche Vorhaben in Österreich auch bald mehrheitsfähig werden, lässt sich aber nicht prognostizieren, sagt Studienleiter Bogner. Er verweist darauf, dass man aus den Studienergebnissen nicht ablesen könne, dass es in Österreich fast ein Drittel überzeugte Libertäre gebe. Es könnte sich auch um eine flüchtige Attitüde handeln. „Ich habe radikale Impfgegner interviewt, die libertär argumentiert haben“, sagt er. „Aber ob es sich dabei um deren tatsächliches Weltbild handelt oder einfach um eine Rechtfertigung für ihre Impfverweigerung, ist schwer zu sagen.“
Bogner plädiert aber dafür, die libertären Haltungen in Österreich weiter zu erforschen. Erst dadurch könne man herausfinden, wie weit verbreitet sie wirklich sind – oder ob sie mit zunehmendem Abstand zur Corona-Pandemie wieder abnehmen. „Bei manchen der Interviewpartner habe ich den Eindruck gehabt, dass sie mit dem Thema abschließen wollten“, sagt er. „Andere haben sich nachhaltig politisiert.“