Morgenpost

Essstörung now!

Die SP-Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner ist angezählt – und die Filmemacherin Jessica Hausner stört mit ihrem eigenwilligen neuen Film, „Club Zero“, das Wettbewerbsprogramm des Festivals in Cannes auf.

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Knapp verloren hat sie also, Sie werden es vermutlich schon gehört haben: Pamela Rendi-Wagner muss sich in der Mitgliederbefragung der SPÖ geschlagen geben, der Gewinner Hans Peter Doskozil hat mit 33,68 Prozent der Stimmen allerdings kaum mehr als zwei Prozentpunkte Vorsprung auf seinen Rivalen Andreas Babler und die aktuelle Parteivorsitzende, die nun wohl, gemäß der eigenen Ankündigung, zurücktreten wird. Es könnte allerdings vermessen sein zu meinen, dass die Sozialdemokraten damit einem glänzenden Reformprozess entgegengingen. So einfach wird parteiinternes Chaos nicht loszuwerden sein.

Und das zeigte sich auch schon gestern. Andreas Babler will Doskozil nun herausfordern und feierte mit Anhänger:innen in Wien (die Reportage von Bablers Wahlparty lesen Sie hier). Gegen eine Stichwahl am Parteitag sprachen sich fünf SP-Landesorganisationen aus. Der burgenländische Landeshauptmann hingegen stellte am "Wahlabend" den Führungsanspruch, der Sieg bei der Mitgliederbefragung stellt Doskozil vor neue Probleme. Eine ausführliche Analyse zu Doskozils Baustellen lesen Sie auf profil.at. Und Rendi-Wagner? Die will sich heute um 9:30 in einer Pressekonferenz äußern. 

Langfristige Nulldiät

Die eine geht, die andere kommt. Basisdemokratie gibt es in der Kunst nicht, dort wird gemacht, was denen, die am weitesten denken, richtig erscheint. Gestern Abend um kurz nach halb acht war es dann, nach Wochen des Wartens, endlich so weit. Die Wiener Regisseurin Jessica Hausner schritt mit ihrem Team zuerst im Blitzlichtgewitter über den roten Teppich vor dem Kinopalais an der Croisette, dann ins Innere des 2300 Menschen fassenden, selbstredend bis auf den letzten Platz besetzte Grand Auditorium Louis Lumière, um ihren jüngsten Film, den sie griffig „Club Zero“ genannt hat, zu präsentieren.

Und nun erst, wenige Stunden nach Ablauf der Sperrfrist, die das strenge Festivalregelwerk vorsieht, darf man also vermelden, dass es im Wettbewerb der laufenden 76. Filmfestspiele in Cannes kein zweites Werk gibt, das mit Hausners jüngster Arbeit die geringste Ähnlichkeit aufweist. Denn „Club Zero“ ist eine in aller Ruhe ins Bizarre verschobene, gegen jegliche Aktualitätsdiktate formalisierte Erzählung von Machtmissbrauch, Manipulation und jugendlicher Selbstbeschädigung, eine Kollektion brisanter Motive also, die in latent satirischem Tonfall über die Rampe gebracht werden.

Kino mit Triggerwarnung!

Aber verquere Pointen und akute Themen allein ergeben bekanntlich noch keinen guten Film. Dies gewährleistet erst die große Stilsicherheit, mit der Jessica Hausner seit je arbeitet. „Club Zero“ besitzt einen farblich akribisch gestalteten Look, entstanden in enger Zusammenarbeit mit einer anderen Meisterin ihres Fachs, der Kostümbildnerin Tanja Hausner. Und gemeinsam mit Kameramann Martin Gschlacht hat die Regisseurin einen ganz eigenen Inszenierungstonfall gefunden, der sich stark am Kino der frühen 1970er-Jahre orientiert: an der Ära der subtil verkippten Ansichten und der langsamen Zooms.

Mit einer Triggerwarnung beginnt der Film: Es werde im Folgenden Darstellungen von „Verhaltenssteuerung und Essstörungen“ geben, die besorgniserregend wirken könnten.

Worum geht es in „Club Zero“? Eine junge Lehrerin unterrichtet an einem britischen Elite-College den Kurs „bewusstes Ernährung“, übt mit esoterischem Vokabular stufenlos gesteigerten Druck aus, propagiert Fastentee, Nachhaltigkeit, Selbstreinigung und Zellenerneuerung durch Essensverzicht – und macht ihre Klasse zur Widerstandsgruppe gegen Konsumismus und Lebensmittelindustrie, für Disziplin und Willensstärke.

Die australische Schauspielerin Mia Wasikowska und ein divers gecastetes junges Ensemble bewegen sich in leicht zediertem Tempo durch diesen Film, während die perkussiv-exotisierende Musik, erst nervig, bald hypnotisch, zur sonderbaren Atmosphäre beiträgt. Ein Gesellschaftsbild entsteht, in dem wohlstandsverwahrloste und indoktrinierte Kids ihr Leben radikal herumzureißen (und auszudünnen) versuchen: Aus reich wird bleich.

Es liegt nicht völlig fern anzunehmen, dass am kommenden Samstag dafür auch der eine oder andere Preis ab- und anfallen könnte: Denn ein Jury-Präsident wie der Schwede Ruben Östlund („Triangle of Sadness“) könnte den giftigen Hausner’schen Sarkasmus ebenso wie die abgezirkelte filmische Form von „Club Zero“ sehr zu schätzen wissen. Wir werden sehen.

Einen kulinarischen Dienstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil!

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.