Frankreich: Das Volk will doch keine Rechtsaußen-Regierung
Das Schöne an der Demokratie ist, dass es ausschließlich in der Hand des Volkes liegt, für die größtmögliche Überraschung zu sorgen. Der Abend des 7. Juli wird als Lehrbuchbeispiel in die Geschichte solcher demokratischen Paukenschläge eingehen. Alle Umfragen hatten einen Sieg der Rechtsaußen-Partei Rassemblement National RN vorhergesagt, nachdem dieser bereits bei der EU-Wahl am 9. Juni und auch beim ersten Wahlgang der Parlamentswahlen am 30. Juni an erster Stelle gelegen war. Doch plötzlich stiegen das Interesse, die Anteilnahme und die Betroffenheit der Französinnen und Franzosen an diesem zweiten Wahlgang, der entscheiden sollte, wer das Land in Zukunft regieren wird. Die Wahlbeteiligung kletterte den Tag über immer höher hinauf, um 17 Uhr lag er bei fast 60 Prozent, und man musste zurückgehen bis ins Jahr 1981, um vergleichbare Werte zu finden.
Was sagte das Volk? Nicht das, was es in Umfragen angedeutet hatte. Es will mehrheitlich nicht von Jordan Bardella, dem Parteichef des Rassemblement National, regiert werden. Er war der fast schon unvermeidlich scheinende Kandidat für das Amt des Premierministers. Mit ihm und seiner Partei hätte Frankreich einen Anti-EU-Kurs eingeschlagen und eine harsche, diskriminierende Politik gegen Migranten verfolgt. „Am Sonntag muss das Volk sein Schicksal in die Hand nehmen“, hatte Marine Le Pen, langjährige Parteichefin und Präsidentschaftskandidatin des RN, auf X verlautbart.
Macron muss sich nun doch nicht vorwerfen lassen, das Land den Rechten ausgeliefert zu haben.
Ironischerweise war das inhaltlich derselbe Aufruf, den Staatspräsident Emmanuel Macron am Abend der verlorenen EU-Wahl an das Volk gerichtet hatte. Es müsse die Verantwortung übernehmen und klarmachen, von wem es regiert werden wolle. Macron war für den dramatischen Akt, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen zu verlangen, heftig kritisiert worden. Er würde damit das Land den Rechten ausliefern, lautete der Vorwurf.
Jetzt ist es anders gekommen. Le Pens RN ist nicht stärkste Partei, allerdings auch nicht Macrons Parteienbündnis „Ensemble“, sondern das für diese Wahl geschmiedete Linksbündnis „Nouveau Front Populaire“ (Neue Volksfront) wird im neuen Parlament die meisten Sitze innehaben.
Was bedeutet das für die französische Politik? Macron kann einerseits aufatmen, er muss sich nicht vorwerfen lassen, den historischen Fehler begangen zu haben und Frankreich zum ersten Mal einer ultrarechten – von vielen als rechtsextrem bezeichneten – Partei ausgeliefert zu haben. Andererseits steht der Staatspräsident einem Parlament gegenüber, in dem seine Partei nun auch keine relative Mehrheit mehr hat. Den Zahlen nach ist er also geschwächt, seine Reputation als Dompteur der Rechten darf er behalten. Zudem wird kein Parteienbündnis über eine absolute Mehrheit verfügen, es ist unklar, wer den Premierminister oder die Premierministerin stellen wird. Macron steht es als Präsident prinzipiell frei zu ernennen, wen er möchte.
Der Wahlsieger, die Neue Volksfront, wird den Anspruch auf das Amt des Premierministers beanspruchen. Jedoch fehlt auch dieser Koalition aus Links-Partei „Unbeugsames Frankreich“, Sozialistischer Partei und Grünen ein Partner im Parlament, der halbwegs verlässlich die nötigen Stimmen für eine Mehrheit beibringen könnte. Macron hat vor der Neuen Volksfront fast ebenso eindringlich gewarnt wie vor dem rechten RN.
Innerhalb der Neuen Volksfront schneidet nach ersten Hochrechnungen die Partei „Unbeugsames Frankreich“ am besten ab, aber auch nicht deutlich. Deren Parteichef ist Jean-Luc Mélenchon, der sich sowohl als Linksradikaler wie auch als scharfer Kritiker Israels positioniert hat, was ihm und mehreren seiner Abgeordneten den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen hat. „Die Terroristen in den besetzten Gebieten sind die Besetzer, nicht die Besetzten“, postet eine EU-Abgeordnete von „Unbeugsames Frankreich" etwa. Jüdische Intellektuelle distanzieren sich von Mélenchon und seiner Partei.
Wohlweislich haben die Parteien der Neuen Volksfront vor der Wahl darauf verzichtet, jemanden als präsumtiven Premierminister zu nominieren. „Selbstverständlich“ sei er bereit dazu, sagte Mélenchon vor der Wahl, woraufhin François Hollande, Ex-Staatspräsident und jetzt wieder einfacher Abgeordneter, ihm riet, „besser zu schweigen“.
Der ultimative Rechtsruck ist gebannt, das Chaos geht weiter.