Gipfel vieler Hemden
Es ist kalt im Charlemagne, dem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel. Bei ihrem gestrigen Besuch behalten die meisten Journalistinnen und Journalisten aus Österreich ihre Jacken an, es hat höchstens 18 Grad. Seit vergangenem Winter werden die Räumlichkeiten nur minimal beheizt – Einsparungen wegen der Energiekrise, ausgelöst vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Die kühlen Temperaturen passen zur allgemeinen Krisen-Atmosphäre in Europa. Der Ukraine steht ein langer Winter bevor, die Angriffe Russlands auf die kritische Infrastruktur werden wohl in den kommenden Monaten zunehmen. Und Kiew geht das Geld aus. Bereits Anfang 2024 droht ein Finanzloch von 29 Milliarden Euro.
Um das kriegsgeplagte Land über Wasser zu halten, will Brüssel der Ukraine 50 Milliarden Euro an Hilfen schicken. Doch Viktor Orbán blockiert die Gelder, um bisher zurückgehaltene Finanzhilfen der EU an Ungarn freizupressen.
Damit es beim EU-Gipfel Mitte Dezember in Brüssel doch noch zu einer Entscheidung kommt und die Gelder an die Ukraine fließen, könnte es wieder eine Art Kuhhandel mit Budapest geben. In Brüssel stellt man sich auf lange Gespräche ein. Die Dauer der Verhandlungen zwischen den Staats- und Regierungschefs der EU wird hier nicht in Tagen und Nächten, sondern im Verschleiß von Hemden und Blusen gemessen: Wie oft werden sich die Politikerinnen und Politiker umziehen müssen, bis auch Orbán der Unterstützung für Kiew zustimmt?
Es wird ein Gipfel vieler Hemden werden.
Putin spielt auf Zeit
Wenn der Ukraine das Geld ausgeht und das Land politisch und wirtschaftlich kollabiert, dann hat ganz Europa ein Problem. Genau das will Russland. Wladimir Putin setzt darauf, dass dem Westen in der Solidarität mit der Ukraine früher oder später die Luft ausgeht. Das wird immer wahrscheinlicher, je länger der Krieg dauert. Deshalb spielt Putin auf Zeit.
Ungarn stellt die Hilfen für die Ukraine mittlerweile offen infrage. Die Slowakei unter dem neuen Premier Robert Fico und die Niederlande unter einem möglichen Premier Geert Wilders könnten dem Beispiel Orbáns folgen.
Die „Kriegsmüdigkeit“ des Westens ist der neue Feind Kiews im Kampf gegen Russland. Washington hat angekündigt, die Militärhilfen an Kiew bald einzustellen. Und die EU-Staaten haben ihre alten Waffen- und Munitionslager geplündert, um sie Richtung Osten zu schicken. Jetzt sind die Bestände weitgehend erschöpft, und Europa verfügt nicht über die nötigen Produktionskapazitäten, um das Loch zu stopfen, das die USA hinterlassen. Von der versprochenen Million Artilleriegranaten hat die EU gerade einmal 300.000 geliefert.
Der Krieg gegen Russland ist ein Artilleriekrieg: Es braucht ständig Nachschub, damit sich die Ukraine gegen die Angreifer wehren kann. In Brüssel machte zuletzt die Idee die Runde, die Amerikaner künftig für ihre Lieferungen an die Ukraine zu bezahlen. Möglich wäre auch, anderen Drittstaaten Munition abzukaufen.
Kommissar Hahn optimistisch
Es drängt sich die Frage auf, wo das alles enden soll. Die Kriegsziele würden nicht in der EU entschieden, sondern in Kiew, heißt es dazu aus Brüssel wie aus Washington. Doch das ist nicht aufrichtig. Die Ukraine ist in höchstem Maße abhängig von Hilfen aus dem Westen.
Man kann jetzt hoffen, dass sich Russlands Bevölkerung mit der steigenden Zahl von Rekrutierungen auch in der Mittelschicht und den wachsenden Folgen der Sanktionen früher oder später gegen Putin wendet. Man kann hoffen, dass der Kreml irgendwann gezwungen ist, einer Waffenruhe zuzustimmen und sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Oder man hilft der Ukraine dabei, sich gegen Russland zu verteidigen.
In Brüssel geht die Sorge um, dass einige Mitgliedstaaten im kommenden Jahr Druck auf Kiew ausüben werden, um die ukrainische Regierung in Verhandlungen zu drängen. Deshalb sei es wichtig, Budgethilfen jetzt zu beschließen, am besten noch vor dem Jahreswechsel.
Die Gelegenheit dazu haben die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in zwei Wochen. In Brüssel hofft man, dass Orbáns theatralische Drohungen am Ende bleiben, was sie sind – und Ungarns Premier mit einigen kleinen Zugeständnissen doch noch nachgibt. Es gäbe auch die Möglichkeit einer konstruktiven Enthaltung. Ob Orbán das dramatisch genug ist?
Orbán drohe jedes Jahr mit Blockaden, am Ende des Tages habe man aber alles durchgebracht, sagt EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn am Dienstag vor den österreichischen Journalisten. Es ist jetzt etwas wärmer im Raum, jemand hat ein mobiles Heizgerät in eine Ecke gestellt.
Zur Not könne man bilaterale Vereinbarungen für die Ukraine-Hilfen mit den 26 anderen Mitgliedstaaten schaffen, ohne Ungarn. „Das ist mühsam“, sagt Hahn, „aber es wäre möglich“: „Man kann uns hier nicht erpressen.“